Christian Lindner ist anders. Er war Reserveoffizier der Bundeswehr, aber vor dieser militärischen Karriere hatte er den Militärdienst verweigert und seinen Zivildienst als Hausmeister absolviert. Als Unternehmer scheiterte der 39-Jährige sogar einmal. Seine Internetfirma ging in der sogenannte Dotcom-Krise Anfang des Jahrtausends Pleite. Fairerweise sollte man ergänzen: Eine andere Unternehmensgründung war erfolgreich.
Rücktritt als grösster Coup
Einen untrüglichen Sinn für Erfolg hat Lindner vor allem in der Politik. Schon als 15-Jähriger machte er Wahlkampf für die FDP, mit 31 Jahren wurde er Generalsekretär der Partei, und – viel wichtiger – im Dezember 2011 trat er Knall auf Fall und ohne nachvollziehbare Begründung von seinem Amt zurück.
Die wichtigsten Köpfe der deutschen FDP
Der Rücktritt war vielleicht sein bisher grösster Coup. Oder weniger polemisch gesagt: Sein geschicktester Schachzug. Denn dadurch geriet er nicht in den Strudel des FDP-Untergangs 2013, als die Liberalen zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus dem Bundestag flogen. Lindner hat als einziger der damaligen Führungsriege – und nicht nur, weil er so jung war – politisch überlebt.
Partei als «One-Man-Show»
Im Dezember 2013 wurde Christian Lindner als letzte, beste Hoffnung der FDP zum Parteivorsitzenden gewählt. In der medialen Öffentlichkeit verfolgt er seither als erfolgreiche «One-Man-Show» das Ziel, die FDP wieder in den Bundestag zu führen.
In einer Woche wird es soweit sein: Alle Umfragen bescheinigen den Liberalen ein Resultat über der sogenannten Fünf-Prozent-Hürde, die es zu überspringen gilt, um ins Parlament einzuziehen. Bei einem guten Resultat von CDU/CSU und FDP ist sogar eine schwarz-gelbe Regierung nicht ausgeschlossen.
In den vergangenen zwei Jahren haben die Liberalen auch bei Landtagswahlen gepunktet, seit 2016 sitzen sie wieder in der Regierung von Rheinland-Pfalz, seit Frühling 2017 von Schleswig-Holstein und seit vergangenem Mai sind sie sogar an der Regierung des politisch wichtigsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen beteiligt.
Gespür für Bilder und Botschaften
Lindners FDP kann es in fast allen Konstellationen: In Rheinland-Pfalz regiert sie mit SPD und den Grünen, in Schleswig-Holstein mit der CDU und den Grünen und in Nordrhein-Westfalen mit der CDU. Der sichere Wahlerfolg bei der Bundestagswahl in einer Woche ist ein besonderer Erfolg Lindners, denn für eine Partei, die nicht im Bundestag sitzt, ist es ausserordentlich schwierig, in der Öffentlichkeit sichtbar zu bleiben.
Christian Lindner ist das gelungen. Er hat ein Gespür für Bilder und Botschaften. Seine Wahlplakate und Clips sind populär, er wird dafür gleichermassen verspottet und gefeiert. Lindner posiert sogar im Unterhemd , nachdenklich, fast etwas traurig, in Schwarz-Weiss.
Das Netz machte sich über Lindners Wahlwerbung lustig und spottete, in Anspielung auf eine Partnerschaftsplattform: «Alle 11 Minuten verliebt sich ein Liberaler in sich selbst».
Die Kinder von Schröders «Agenda 2010»
Egal, es funktioniert: «Ich bin auf Lindner durch Facebook aufmerksam geworden», sagte eine junge Studentin vor genau einer Woche in der sogenannten Schinkelhalle in Potsdam. Rund 600 Interessierte wollten sich an diesem Abend Christian Lindner anhören. Für eine Partei, die nicht im Bundestag sitzt, sind das viele.
Vor allem junge Menschen sind gekommen. Es sind die heute Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, die mit Schröders «Agenda 2010» grossgeworden sind. Die Reformen des damaligen SPD-Kanzlers bedeuteten für Deutschland eine Revolution. Vor allem mental. Das Arbeitsleben ist härter geworden. Dass eine Person mehrere Jobs gleichzeit hat, ist keine Ausnahme mehr.
Lindners Angebot richtet sich an diese Generation: Man müsse nicht die Findigen, sondern die Fleissigen fördern, lautet ein Credo des FDP-Parteichefs. Und er fordert immer wieder immer neue Weiterbildungsmöglichkeiten und die Digitalisierung der Gesellschaft. «Das Digitalste in der Schule dürfen nicht die Pausen sein», rief Lindner in Potsdam in den einsetzenden Applaus hinein. Das kommt bei den «Digital Natives» gut an.
Entlastung für Arbeitslose
Die neue FDP habe mit der alten nur noch das Gründungsdatum und den Namen gemeinsam, behauptet Christian Lindner. Das stimmt natürlich nicht. Natürlich hat sich die FDP nicht völlig neu erfunden, natürlich bedient auch Lindner die liberalen Klassiker wie Marktwirtschaft und Chancengleichheit statt Wohltaten verteilen. Und er spricht auch wie ein Liberaler. Aber es gibt auch Unterschiede. Was Lindner vor einer Woche in Potsdam sagte, hätte die alte FDP vor vier Jahren nicht gesagt.
Die Entlastung müssen wir auf den Hartz-IV-Empfänger, die Krankenschwester konzentrieren: Um diese Mitte der Gesellschaft geht es uns.
Die alte FDP war die Steuersenkungspartei, die Partei der besserverdienenden Anwälte und Zahnärzte, die Partei, der viele soziale Kälte vorwarfen – auch wenn das zum Teil ein Klischee ist. In Potsdam sagte Lindner: «Wenn Sie Manager, wenn Sie Bundesligaprofi, wenn sie TV-Moderator sind, dann dürfen Sie von uns keine grössere Entlastung erwarten. Wir schützen Sie zwar vor zusätzlicher Belastung, die andere Parteien wollen. Aber die Entlastung müssen wir auf den Hartz-IV-Empfänger, die Krankenschwester konzentrieren: Um diese Mitte der Gesellschaft geht es uns.»
Alternative zur AfD
In Zeiten der Grossen Koalition sind Alternativen attraktiv geworden und nicht nur die rechte Alternative für Deutschland (AfD). Christian Lindners FDP versteht sich als Alternative zur Grossen Koalition und zur AfD.
Lindner verlangt zwar, dass syrische Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren, sobald der Krieg zu Ende ist. Aber der Flüchtling, der fünf Jahre in Deutschland lebe, Deutsch gelernt habe, eine Ausbildung gemacht und sogar einen Job habe, der sich in dieser Gesellschaft engagiere und nicht straffällig geworden sei, «der soll doch gerne hier bleiben, der ist uns willkommen, da fragen wir doch nicht: Liest Du den Koran oder die Bibel?» Lindner fordert ein kohärentes Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln.
Lindners FDP strotzt vor Selbstbewusstsein. Er wolle keine politische Kehrtwende, aber eine Trendwende müsse schon eingeleitet werden, wenn die FDP in eine Regierungskoalition eintreten werde, sagt Lindner immer wieder. Ein Einwanderungsgesetz würde dazugehören, wenn man Lindners Rhetorik ernst nimmt.