Zwei Aspekte fallen in Deutschland nach der EU-Wahl auf: Die rechtskonservative AFD hat insgesamt schwächer abgeschnitten als bei der Bundestageswahl, im Osten aber kräftig zugelegt. Im Westen haben die Grünen erdrutschartige Gewinne eingefahren. Für SRF-Korrespondent Peter Voegeli könnte Deutschland ein politisches Erdbeben bevorstehen.
SRF News: AfD-Chef Alexander Gauland hat erklärt, dass die Ostdeutschen freiheitsliebend seien. Deswegen habe die AfD Stimmen gewinnen. Was meint er damit?
Peter Voegeli: Die AfD behauptet, dass die Grünen eine Verbotspartei sei. Sie würden den Menschen vorschreiben, was man essen, anziehen und fahren soll. Die Grünen sind keine Ein-Themen-Partei, das ist eher bei der AfD der Fall.
Es gibt im Osten eine grosse Angst vor einem Strukturwandel.
Die Erfolge der Grünen beruhen darauf, dass sie im Moment zu einer Art Bewegung und Lebenseinstellung geworden sind und den Zeitgeist treffen. Zu ihrer Ehrenrettung muss man aber auch sagen, dass sie eine Rechtsstaatpartei sind. Sie setzen sich für den Schutz und die Freiheit des Einzelnen ein.
Die Grünen gewinnen in West-, nicht aber in Ostdeutschland. Ist der Klimaschutz im Osten kein Thema?
Doch natürlich, aber in der sächsischen Lausitz zum Beispiel, wo der Braunkohletagebau in den nächsten 20 Jahren beendet wird, geht es auch um Arbeitsplätze. Es gibt im Osten, aus der Erfahrung des Untergangs der DDR, eine grosse Angst vor einem Strukturwandel.
Das ehemalige DDR-Industriekombinat Bitterfeld war eine Umweltdrecksschleuder allererster Güte. Müsste man nicht gerade deswegen in Ostdeutschland sensibilisierter sein?
Klar, wer in Bitterfeld Wäsche aufgehängt hat, musste damit rechnen, dass sie farbige Punkte bekam. Die Braunkohle in der Lausitz machte alles grau. Die Fortschritte der letzten 30 Jahre werden aber den damaligen Regierungen angerechnet.
Für die CDU gibt es fast nur toxische Möglichkeiten.
Gerade im Vergleich mit den katastrophalen Zeiten in der DDR sagen viele, dass es besser geworden sei. Die Erfolge werden jedoch nicht den Grünen angerechnet.
Die Unterschiede sind markant und zumindest im Osten ziemlich festgefahren. Wird die AfD bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg, und Thüringen weiter stark bleiben?
Ein CDU-Stratege in Sachsen erklärte mir, dass man nach der Europawahl in Sachsen damit rechnen müsse, dass die AfD auch bei der Landtagswahl im September stärkste Partei sein wird. Das sagt doch einiges über den Zustand der CDU in Sachsen aus. Selbst wenn die CDU gewinnt, ist unklar, mit wem sie regieren wird. Wenn sich die CDU in Sachsen mit den Grünen zusammenschliessen würde, verlöre sie noch mehr eigene Wähler, weil die Partei unter Angela Merkel dann zu weit links wäre.
Werden die CDU und die SPD auf die AfD zugehen müssen?
Bei der CDU ist es unklar. Der jetzige Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, lehnt das kategorisch ab, andere in der Partei würden es tun. Für die CDU gibt es fast nur toxische Möglichkeiten, ausser die Freien Wähler kommen in den Landtag und können mit der CDU, so wie die Freien Wähler mit der CSU in Bayern, eine Regierung bilden. Die SPD nähert sich im Osten dem einstelligen Bereich. Wenn die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst schlecht ausgehen werden, bleibt der SPD nicht viel anderes übrig als die grosse Koalition in Berlin zu verlassen und sich in der Opposition zur erneuern. Wenn die grossen Niederlagen im Herbst kommen, wird je nach Resultat ein politischer Tsunami losbrechen.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.