Jeden Abend das gleiche Bild: Drei, vier Frauen oder Männer, in der Hand eine zerkratzte, halb mit Wasser gefüllte Pet-Flasche, bewegen sich zusammen Richtung Wald.
Diese Prozessionen wiederholen sich Millionenfach in Indien, wenn die Dämmerung den Tag vertreibt. Rund eine halbe Milliarde Menschen nutzen keine Toiletten und gehen stattdessen auf die Felder, in den Wald, ans Flussufer oder auf die Bahngeleise.
Hohe Kosten
Mehr als die Hälfte aller Menschen dieser Welt, die sich unter freiem Himmel entleeren, leben in Indien. Damit hält das Land einen unrühmlichen Rekord. Die offene Defäkation, wie der Fachausdruck dafür heisst, hat gravierende Konsequenzen: Tödliche Krankheiten, Durchfall, Kindersterblichkeit, verseuchtes Grundwasser.
Denn – so hat das UNO-Kinderhilfswerk Unicef herausgefunden – ein Gramm Kot beinhaltet 10'000 verschiedene Viren, rund 1000 Bakterien und Parasiten und in Kinderkot hat es sogar noch eine höhere Konzentration von Erregern.
Die Weltbank hat ausgerechnet, dass solch schlechte sanitäre Bedingungen Indien im Jahre 2006 nicht nur Millionen Menschenleben kostete, sondern wegen verseuchtem Wasser, Krankheiten und Arbeitsausfällen auch umgerechnet rund 54 Milliarden Franken – was 6.4 Prozent seines BIP ist.
Jedem Inder ein Klozugang
Handlungsbedarf gab es vor allem auf dem Land, wo 70 Prozent aller Inder Leben. Im ärmsten Teilstaat Bihar im Norden Indiens beispielsweise nutzten 2014 über 70 Prozent keine Toiletten.
Auch im bevölkerungsreichsten Staat Uttar Pradesh, der mit über 200 Millionen Einwohnern fast so gross ist wie Brasilien, war die Lage desolat. Viel zu wenig Toiletten gab es auch in den Slums der Städte.
Dieser Misere hat Premierminister Modi bei seinem Amtsantritt vor fünf Jahren den Kampf angesagt. Er hat versprochen, jedem Inder Zugang zu einer Toilette zu ermöglichen. Medienwirksam griff der Premierminister sogar selber zur Schaufel und hat eine Grube ausgehoben.
Mit einem Rekordbudget von umgerechnet 10 Milliarden Franken liess er im Akkord Toiletten bauen. 100 Millionen sollen es bis heute sein, die mit Subventionen aus Delhi gebaut wurden und inzwischen haben sich fast alle Bundesstaaten das Zertifikat Open-Defecation-Free verliehen, denn – statistisch gesehen – gibt es nun genug Toiletten.
Toiletten als Lagerraum
Doch was gut tönt, hat einen grossen Haken: Die meisten Toiletten wurden zwar tatsächlich gebaut, doch jeder Vierte, der ein neues Klo bekommen hat, nutzt es nicht oder braucht das Klohäuschen für andere Zwecke wie zum Beispiel als Lagerraum für Brennmaterial.
Zu diesem Befund kommen renommierte regierungs-unabhängige Wissenschaftler des Rice Institutes in Delhi, die in Feldstudien die Wirksamkeit der Toiletten-Initiative untersucht haben. Auch Modi gibt inzwischen zu, dass noch einiges zu tun sei.
Was ist schief gelaufen? Antworten auf diese Frage hat Professor Santosh Mehrotra von der Universität New Delhi. Der Hygienespezialist, der früher für die UNO arbeitete, sagt, dass sich die Regierung zu stark auf den eigentlichen Toilettenbau konzentriert habe und dabei den schwieriger zu implementierenden Softfaktor «Verhaltensänderung» vernachlässigt habe.
«Toiletten bauen führt nicht automatisch zur Nutzung der Aborte.» Zudem erforderten Verhaltensänderungen viel mehr Zeit. Ein Fenster von rund fünf Jahren sei nicht realistisch, um solch grundsätzliche und tief verwurzelte Gewohnheiten zu ändern.
Traditionen versus Gesundheit
In Indien hantieren traditionell nur die untersten Kasten mit Fäkalien – zum Beispiel die sogenannten Dalits. Die neugebauten Toiletten wurden grösstenteils mit Sickergruben ausgestattet, denn ein Kanalisationsnetz gibt es insbesondere auf dem Land nicht. Somit muss die Grube sporadisch geleert werden.
Doch wer soll das tun? Entweder geschieht dies manuell durch Dalits, was in Indien theoretisch verboten ist, aber immer noch gemacht wird, oder mit Pumpmaschinen, die kaum verfügbar und für die meisten sowieso unerschwinglich sind.
Eine andere Lösung sind Zwei-Kammer-Toiletten, in denen sich die Fäkalien in einer Grube zu Dünger wandeln, während die andere genutzt wird. Allerdings braucht es für den Bau solcher Twin-Pit-Anlagen Fachwissen, das kaum vorhanden ist. Darum soll es viele falsch konstruierte und somit nicht brauchbare Klos geben.
Toiletten aufgezwungen
Fäkalien sind im indischen Kontext auch im spirituellen Sinne unrein und darum ist die Überzeugung noch immer weit verbreitet, dass eine Toilette in den eigenen vier Wänden ungeeignet sei.
Vielen Familien seien WCs von eifrigen Beamten offenbar geradezu aufgedrängt worden, erzählt Professor Mehrotra. «Anders als zum Beispiel in Bangladesch, wo das Problem der offenen Defäkation auch sehr dringend war, haben die Beamten den Bewohnern die Latrinen gebaut, statt sie in den Prozess zu integrieren und die Anlagen selber bauen zu lassen.»
Nur so würden die Menschen auch verstehen, dass das ihre eigene Toilette sei, die sie selber sauber halten sollten und vor allem auch nutzen.
Auch seien die Zusammenhänge zwischen Krankheiten und der offenen Defäkation vielerorts noch zu wenig bekannt. Insbesondere der Umstand, dass viele Mütter von ihrem Gang auf die Felder tausende Bakterien und Viren heim schleppen, wenn sie in den kontaminierten Feldern umhergehen. Diese Erreger übertragen sie zuhause an ihre Kleinkinder, die an Durchfall oder Ruhr erkranken.
Aufklärung noch ungenügend
Zudem ist der Glaube vor allem unter Männern nach wie vor weit verbreitet, dass es «gesünder sei», sich unter freiem Himmel zu entleeren. Frauen sind hier kritischer, da sie in der Regel nur in der Morgendämmerung und am Abend aufs Feld können.
Zudem sind die Toilettengänge im Freien auch ein Risiko: Die indische Bundespolizei schätzt, dass rund zwei Drittel aller Vergewaltigungen im Zusammenhang mit dem Gang auf die Felder oder in die Wälder geschehen.
In der Euphorie, die neu produzierten Klo-Zahlen zu verkünden, hat es die Regierung Modi verpasst, die Wirksamkeit der Toiletten-Initiative im Feld genauer zu überprüfen und dringend notwendige Korrekturen vorzunehmen.
Die weltgrösste Hygiene-Aktion hat sicher bestimmte Verbesserungen gebracht, doch für eine nachhaltige Veränderung braucht es weitere grosse Anstrengungen.