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Wahlkampf im Ausland «Sultan Erdogan» in Sarajevo

  • Den bisher einzigen Wahlkampfauftritt ausserhalb der Türkei absolvierte Präsident Erdogan am Sonntag in Sarajevo vor rund 10'000 Anhängern aus verschiedenen Ländern Europas.
  • Neuere Umfragen deuten auf einen knappen Wahlausgang im Juni hin.
  • Gegner Erdogans rüsten sich bereits für eine mögliche Stichwahl am 8. Juli.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Juni wird für den türkischen Präsidenten und seine Partei kein leichter Gang. Darauf deuten neue Umfragen hin. Die Auslandstürken sind eine Klientel, die den Ausschlag für den Erfolg des Amtsinhabers geben könnte. Deshalb betrieb Recep Tayyip Erdogan jetzt in Sarajevo Wahlkampf.

Aus Deutschland und Österreich, aus Norwegen und den Niederlanden waren Türken angereist. Sie kamen mit Autos und Bussen, für viele war die Strecke mehr als 1000 Kilometer lang. Zu sehen bekamen sie den Mann, für den sie die Strapazen auf sich nahmen, am Sonntag nur kurz: Gerade einmal 40 Minuten sprach der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem bislang einzigen geplanten Wahlkampfauftritt im europäischen Ausland.

Heftiger Streit in Bosnien-Herzegowina

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Erdogans Wahlkampfauftritt in Sarajevo führte zu heftigem Streit in Bosnien-Herzegowina. Er habe von der Wahlveranstaltung nur aus den Medien erfahren, sagte das kroatische Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium, Dragan Covic, dem Zagreber Fernsehsender HRT. Der Besuch füge dem in die EU strebenden kleinen Balkanland grossen strategischen Schaden zu. Die Türkei hatte Erdogans Auftritt über Bakir Izetbegovic, das muslimische Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, organisiert. Izetbegovic, der sich als enger Freund des türkischen Präsidenten bezeichnet, hatte am Vortag die Türkei als Investor und Verbündeten gelobt. Demgegenüber kritisierte der zweitwichtigste Muslimführer Fahrudin Radoncic im Fernsehsender N1 den Wahlkampf in Sarajevo. Erdogan gehe es um «eine Demonstration für Westeuropa: Seht mal, hier auf dem Balkan kann ich sein». Erdogan selber dankte den Bosniern für den Wahlkampfauftritt, wenn auch mit einem fragwürdigen Vergleich: «Zu einer Zeit, in der glorreiche europäische Länder, die behaupten, die Wiege der Demokratie zu sein, versagt haben, hat Bosnien-Herzegowina gezeigt, dass es wirklich demokratisch ist, indem es uns ermöglicht, uns hier zu treffen.»

«Sultan Erdogan» und die «osmanische Ohrfeige»

Nach Angaben der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) waren rund 10'000 Auslandtürken nach Sarajevo gereist, etwa die Hälfte davon aus Deutschland. Die UETD hatte den Wahlkampfauftritt Erdogans im europäischen Ausland organisiert.

Die Menge schwenkte türkische Fahnen und rief «Allahu Akbar» und «Sultan Erdogan». Ihr politisches Idol lieferte hierauf Argumente, die für seine Wahl sprechen sollen: «Seid Ihr bereit, den Terrororganisationen und ihren lokalen und ausländischen Handlangern eine osmanische Ohrfeige zu verpassen?». Und: «Seid Ihr bereit, mich mit einer Rekordzahl an Stimmen in der Präsidentenwahl zu unterstützen?».

Die Staatsangehörigkeit der Gastländer annehmen

Bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen am 24. Juni gehe es um eine Entscheidung «für das nächste Jahrhundert unseres Landes». Und er forderte seine Landsleute auf: «Gebt von Deutschland, Belgien, Österreich, den Niederlanden aus eine Antwort, die überall in Europa gehört werden kann.»

Schliesslich regte Erdogan die jubelnden Anhänger dazu an, ihren Einfluss in den Gastländern auszudehnen. «Nehmt unbedingt die Staatsangehörigkeit der Länder an, in denen ihr lebt», forderte er. «Ich bitte Euch, dass Ihr eine aktive Rolle in den politischen Parteien in den Ländern übernehmt, in denen Ihr lebt. Ihr solltet ein Teil dieser Parlamente sein, nicht diejenigen, die ihr Land verraten.»

Schlechte Umfragewerte

Für Erdogan könnte die Unterstützung der Türken vor allem in der EU matchentscheidend sein. Auslandstürken machen etwa fünf Prozent aller Wähler aus. Umfragen deuten darauf hin, dass die bevorstehende Wahl für Erdogan nach jetzigem Stand kein Durchmarsch wird.

Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sonar – das bei der Präsidentenwahl 2014 nah am Ergebnis lag – würden derzeit in der ersten Wahlrunde am 24. Juni nur 42 Prozent für Erdogan stimmen. Die fünf Kandidaten der Opposition kämen zusammen auf eine satte Mehrheit. Selbst in AKP-Kreisen wird derzeit unter der Hand eingeräumt, dass Erdogan die absolute Mehrheit in der ersten Runde verfehlen könnte.

Letzte Chance gegen Ein-Mann-Herrschaft

Kritiker Erdogans befürchten eine Ein-Mann-Herrschaft, wenn der amtierende Präsident die Wahlen gewinnen sollte – und sehen in diesen die letzte Chance, das noch zu verhindern. Entsprechend wichtig sind die rund drei Millionen Wahlberechtigten im Ausland. Fast die Hälfte davon lebt in Deutschland, und unter ihnen hat Erdogan überproportional viele Anhänger.

Deutschland, die Niederlande und Österreich – wo ebenfalls viele wahlberechtigte Türken leben – untersagen türkische Wahlkampfauftritte im Vorfeld der Wahlen am 24. Juni. Die UETD wich nun auf Sarajevo aus.

Kritik an Auftrittsverbot in Deutschland

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Ankara hat das Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker in Deutschland kritisiert. Mit Blick auf die hier lebenden Türken sagte Vize-Regierungschef Recep Akdag der «Welt»: «Es ist das demokratische Recht dieser Menschen, dass sie im Wahlkampf von Politikern aller türkischen Parteien über deren Ziele und Ideen informiert werden.» Es sei wichtig, dass Berlin dieses demokratische Recht nicht verletze. Seine Regierung verstehe nicht, warum solche Auftritte in Deutschland jahrelang möglich waren «und jetzt plötzlich alles anders sein sollte». Im vergangenen Juni erliess die deutsche Regierung ein generelles Auftrittsverbot für ausländische Amtsträger aus Nicht-EU-Staaten, das drei Monate vor einer Wahl in deren Land gilt.

Prekäre wirtschaftliche Situation in der Türkei

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni findet vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden volkswirtschaftlichen Lage ab: Die Inflation ist mittlerweile zweistellig, die türkische Lira hat gegenüber dem Dollar seit Jahresbeginn rund 15 Prozent an Wert verloren. Die mit Abstand grösste Sorge der Türken ist einer Umfrage zufolge nicht mehr die Terrorbedrohung, sondern die wirtschaftliche Lage.

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