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Chicagos Kampf gegen die überlaufende Kanalisation
Aus Rendez-vous vom 04.08.2023. Bild: Keystone/Kiichiro Sato
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Wasserfluten managen Die Megakanalisation von Chicago

Gigantische Tunnel und Reservoirs sollen Chicago im langen Kampf gegen das Wasser helfen. Doch Beton allein reicht nicht: Der Klimawandel bedroht die drittgrösste US-Stadt.

Dreimal ertönt das Warnsignal, die Erde bebt, in der Entfernung ist das Grollen einer Explosion zu hören. Südwestlich von Chicago wird ein immenses Wasserbecken aus dem Boden gesprengt. Die grossen Baumaschinen sehen vor den Kalksteinwänden aus wie Spielzeugautos. Daneben ist ein erstes Becken schon fertig und zum Teil mit Abwasser gefüllt. Schwimmende, solarbetriebene Geräte mischen Sauerstoff in die Brühe, um den Gestank zu vermindern, der hier, hoch oben auf den Wänden des Beckens, nur schwach wahrnehmbar ist.

«Unter unseren Füssen verläuft ein Tunnel mit einem Durchmesser von etwa zehn Metern, der hier in das Reservoir mündet», erklärt Patrick Jensen. Der Bauingenieur ist spezialisiert auf Chicagos Tunnel und Reservoirs und arbeitet für den «Metropolitan Water Reclamation District of Greater Chicago», der das System betreibt.

Das «McCook Reservoir» soll dereinst fast 40 Milliarden Liter aufnehmen können und wird damit zum grössten Bauwerk seiner Art. Es ist eins von insgesamt drei Reservoirs rund um Chicago und bildet die letzte Baustufe in einem ambitionierten Mehrgenerationenprojekt. Die Reservoirs gehören zu einer Art Megakanalisation, die als eins der weltweit grössten Tiefbauprojekte gilt. Der «Tunnel and Reservoir Plan» (TARP), oder kurz «Deep Tunnel», ist längst in Betrieb, ganz fertig soll er aber erst 2029 werden.

Plan.
Legende: Insgesamt sollen drei Reservoirsysteme mitsamt unterirdischen Megatunneln Chicago und den Lake Michigan vom Schmutzwasser entlasten. mwrd.org

Abwasser im Fluss – und im See

Der «Deep Tunnel» wurde konzipiert, um einem Problem zu begegnen, das die Grossstadtregion Chicago schon lange plagt: «Wir haben ein kombiniertes System: Regenwasser und Abwasser laufen in der gleichen Röhre zusammen», erklärt Jensen. «Als die Bevölkerung zunahm, wurde mehr und mehr Fläche zubetoniert, die Böden nahmen weniger Wasser auf und mehr Wasser endete in der Kanalisation.» Bei Regenstürmen seien die Kläranlagen in Chicago quasi überschwemmt worden. In der Folge überlief die Kanalisation, es kam in der Stadt zu Überschwemmungen.

In den 1960er-Jahren überlief die Kanalisation an mehr als hundert Tagen im Jahr in den Chicago River, der mitten durch die Stadt fliesst. Entsprechend miserabel war die Wasserqualität. Und Abwasser gelangte mit dem Fluss auch in den See, in den Lake Michigan.

Der «Deep Tunnel» soll Abhilfe schaffen: Bei Regenstürmen soll das Wasser aus der Kanalisation hinunterfliessen in diese massiven Tunnel, die es hinaus in die Reservoirs bringen. Dort wird das Gemisch aus Regen- und Abwasser quasi zwischengelagert, bis die Kläranlagen wieder die nötige Kapazität haben. Es ist ein Pionierbauwerk. Und es sei sehr erfolgreich, heisst es von den Betreibern. Auch die Wasserqualität im Fluss habe sich stark verbessert. Tatsächlich sind dort heute wieder Dutzende Fischarten zu finden. Und auch andere Städte wie Milwaukee oder London haben den Weg hin zu einer Megakanalisation eingeschlagen.

Chicagos Kampf gegen das Wasser

Chicago, die drittgrösste Stadt in den USA, wurde auf einem flachen Feuchtgebiet gebaut, direkt an einem der grössten Seen der Welt. Der Kampf gegen Hochwasser und verschmutzte Gewässer hat eine lange Geschichte. Früher war es auch ein Kampf gegen Krankheiten wie Typhus oder Cholera. Das Abwasser und Industrieabfälle wurden damals, bevor es Kläranlagen gab, mitsamt Krankheitserregern in den Chicago River geleitet, der dieses unappetitliche Gemisch in den Lake Michigan trug, von wo die Stadt bis heute ihr Trinkwasser holt.

Luftaufnahme Chicagos mit Downtown und Lake Michigan.
Legende: Chicago am Lake Michigan ist die drittgrösste Stadt der USA. In der Stadt selber leben rund 2.7 Millionen Menschen, in der Metropolregion der Stadt sind es rund 9.6 Millionen. Imago/Ron Chapple Stock

Die Industriestadt Chicago sah die Lösung in einem baulichen Kraftakt: Mit einem Kanal wurde die Fliessrichtung des Chicago Rivers umgekehrt. Seit 1900 fliesst er statt in den See nun aus dem See heraus. Das Abwasser der Stadt wurde also in Richtung Mississippi und Golf von Mexiko umgeleitet.

Chicago hat immer wieder versucht, den Kampf gegen das Wasser mit einem einzigen grossen Wurf zu gewinnen. Der «Deep Tunnel» ist die Fortsetzung davon. 1975 begann der Bau: riesige Röhren, insgesamt gegen 180 Kilometer lang, tief unter Chicago. Das System ist längst in Betrieb, doch die letzte Bauphase, jene der Reservoirs, soll erst Ende dieses Jahrzehnts abgeschlossen sein.

Wenn Beton nicht reicht

In einem hell erleuchteten, unterirdischen Raum stehen die grossen Pumpen, die die Reservoirs wieder leeren, sobald die Kläranlagen das Abwasser aufnehmen können. Man kann nicht anders, als dieses immense, durchdachte Bauwerk zu bewundern.

Pumpenraum.
Legende: In einem unterirdischen Raum stehen die riesigen Pumpen, die das Schmutzwasser von den Megaauffangbecken in die Kläranlagen leiten. SRF/Andrea Christen

Doch ist das, was vor Jahrzehnten geplant wurde, den Wetterextremen von heute gewachsen? Der Pegel des Lake Michigan machte in den vergangenen zehn Jahren grosse Schwankungen durch – und im Jahr 2020, als die Pegelstände Rekordwerte erreichten, kam es in Chicago zu Überschwemmungen. «Die eine Sache, an die die Planer des ‹Deep Tunnel› nicht dachten, war der Klimawandel», erklärt Patrick Jensen. Es sei eine Zunahme an kurzen, heftigen Regenstürmen zu beobachten.

Die Böden könnten das Wasser nicht aufnehmen, es fliesse an der Oberfläche ab. Das kann selbst ein Bauwerk wie der «Deep Tunnel» an seine Grenzen bringen. Das Wasser gelangt aus den lokalen Kanalisationen womöglich nicht rasch genug in das Tunnelsystem – oder die gigantischen Reservoirs und Tunnel sind voll.

Extremregen überfordert das System

Das hat sich am vergangenen 2. Juli eindrücklich gezeigt: In nur 24 Stunden fielen in der Grossstadtregion stellenweise über 200 Millimeter Regen. Ein Teil des Deep-Tunnel-Systems erreichte die Kapazitätsgrenze. Wasser drang in Tausende Keller ein, Strassen standen unter Wasser. Der Fluss überschwemmte in der Innenstadt eine beliebte Flaniermeile, den «River Walk». Der Flusspegel war höher als jener des Lake Michigan.

Es blieb keine andere Wahl, als die Schleusentore zu öffnen. Der Chicago River floss nun vorübergehend wieder in den See – und mit ihm alles, was aus der Kanalisation ausgetreten und in den Fluss gelaufen war. Die Strände in Chicago waren in der Folge vorübergehend geschlossen. «Kein System kann in nur wenigen Stunden so viel Wasser bewältigen», hiess es von den Betreibern des «Deep Tunnel».

Der sintflutartige Niederschlag ist ein weiterer Beweis dafür, dass das gigantische Bauwerk allein Chicago nicht vor dem Wasser schützen kann. «Wir haben all diese graue Infrastruktur gebaut, jetzt müssen wir auch grüne Infrastruktur bauen», erklärt Ingenieur Jensen. Es gehe darum, das Wasser dort, wo es fällt, aufzufangen, bevor es in der Kanalisation ende – mit Grünflächen oder wasserdurchlässigem Strassenbelag.

Badewanne und Schwamm

Kritiker des «Deep Tunnel» setzen hier an. Seit je glaube man in der Stadt, man müsse nur einen grossen Spaten ansetzen, um ein Umweltproblem zu lösen. Doch das Bauwerk sei vor Jahrzehnten für eine Stadt geplant worden, die in dieser Form nicht mehr existiere.

Nicht nur bringe der Klimawandel mehr Wetterextreme, es gebe in Chicago auch mehr zugebauten Boden, der das Wasser nicht mehr aufsaugen könne. Die Feuchtgebiete, auf denen Chicago gebaut worden war, sind in der Innenstadt grossflächig zugebaut worden. Chicago habe bislang zu wenig unternommen, um etwa Grünflächen anzulegen, die Wasser aufnehmen könnten. Städte wie Milwaukee, das ebenfalls am Lake Michigan liegt und über einen «Deep Tunnel» verfügt, seien schon weiter.

Immerhin scheint Einigkeit zu herrschen: Nur mit Beton kann Chicago den Kampf gegen das Wasser nicht gewinnen. Der «Deep Tunnel» ist ein grosses Becken, quasi Chicagos Badewanne, die viel Wasser auffängt. Nun muss Chicago auch zum Schwamm werden.

Rendez-vous, 4.8.23, 12:30 Uhr

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