Eine der wichtigsten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Pandemie ist es, sich ausgiebig die Hände zu waschen. Doch was, wenn kein Wasser aus der Leitung kommt? So ergeht es derzeit den meisten Venezolanerinnen und Venezolanern.
Ingenieur José María de Viana sagt: Die Lage sei schon lange katastrophal. Aber nun, in der Pandemie, könnte die Wasserknappheit zusätzlich die Eindämmung des Virus erschweren.
SRF: Wie schwerwiegend ist das Problem?
José María de Viana: 80 Prozent der Haushalte sind von der Wasserknappheit betroffen. Bei Protesten gehört die Wasserversorgung deshalb zu den wichtigsten Forderungen. Auch die Hälfte der Spitäler hat keine ausreichende oder gar keine Wasserversorgung. Das bedeutet in der Pandemie: Dort, wo die Kranken sind, gibt es kein Wasser zum Händewaschen, zum Putzen, nicht einmal in den Toiletten. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Ihre grösste Sorge gilt also derzeit dem Gesundheitssystem?
Was wir von Krankenpflegern und Ärzten hören, ist ein absoluter Alptraum. Wie soll etwa das Universitätskrankenhaus in Maracaibo Covid-19-Patienten versorgen, wenn es kein Wasser hat? Wenn die Fallzahlen rapide steigen sollten, werden viele Patienten auf Spitäler ohne Wasser treffen. Möge Gott Venezuela beschützen. Oft fehlt es ja schon an Schutzkleidung – und dann kein Wasser zum Händewaschen?
Wenn etwas aus der Leitung kommt, dann oft trüb. Damit besteht die Gefahr, dass das Wasser Krankheiten weiter trägt.
Was bedeutet es, wenn Ärzte sich nicht duschen können, bevor sie sich auf den Heimweg machen? Wir haben auch noch eine andere, grosse Sorge: Die, die derzeit für die Wasserversorgung verantwortlich sind, verstehen anscheinend nicht, wie wichtig es ist, das Trinkwasser zu desinfizieren. Wenn etwas aus der Leitung kommt, dann oft trüb. Damit besteht die Gefahr, dass das Wasser Krankheiten weiter trägt.
Venezuela hat eins der am besten ausgebauten Wassernetze in Südamerika, der Grossteil der Haushalte ist angeschlossen. Wo liegt das Problem?
Seit 20 Jahren, seit Hugo Chávez Präsident wurde, fehlt es an Investitionen und Instandhaltung. Das fachkundige Personal wurde Stück für Stück ausgetauscht. Regierungstreue Funktionäre wurden eingesetzt, die – um es vorsichtig auszudrücken – ein geringes Talent für ihre Aufgaben hatten.
Damals begann der Niedergang in der öffentlichen Versorgung – und zwar nicht nur beim Wasser, auch im U-Bahn-Netz, dem Zugsystem oder der elektrischen Versorgung. Die Angestellten fühlen sich in erster Linie dem Regierungspalast verpflichtet, nicht den Kunden. Die Folge ist eine Verschlechterung der Lebensqualität, insbesondere in den letzten fünf Jahren.
Welche Auswirkungen hat die Wasserknappheit auf den Alltag?
Sie bringt das Leben völlig durcheinander. Manche Viertel haben wochenlang, monatelang kein Wasser, die Menschen versorgen sich mit Kanistern. Entweder kaufen die Menschen das Wasser oder werden von der Regierung mit Zisternenwägen versorgt. Dass wir nun sogar Leute sehen, die an Flüssen und Wasserquellen Schlange stehen oder selbst Brunnen bohren, ist ein zivilisatorischer Rückschritt.
Es ist erniedrigend, insbesondere für ein Volk, das einmal eine Versorgung erster Güte hatte und nun ohne diesen grundlegenden Service leben muss. Ohne eine Trinkwasserversorgung ist auch keine öffentliche Gesundheit möglich. Wenn Sie Wasser in Kanistern aus einer Quelle holen, wissen Sie nicht, ob dieses Wasser sauber ist oder nicht.
Sie haben einmal gesagt, dass die Wasserknappheit ein politisches Machtmittel darstellt.
Woanders würde eine Regierung, die das nicht leistet, abgewählt. Aber in Venezuela gibt es seit einiger Zeit keine freien Wahlen. Die Regierung glaubt, sie kann an der Macht bleiben, ohne die Unterstützung der Bürger.
Hätten wir freie Wahlen, müsste die Regierung das Problem der Wasserversorgung lösen.
Hätten wir freie Wahlen, müsste die Regierung das Problem der Wasserversorgung lösen. Dazu kommt: Wenn die Menschen einen grossen Teil ihrer Zeit damit verbringen, grundlegende Probleme zu lösen, etwa Wasser zu tragen, dann sind sie erschöpft und protestieren weniger. Hoffnungslosigkeit macht sich breit.
Die Regierung schickt mit Wasser gefüllte Tankwagen, um das Problem zu lindern.
Mindestens 85 Prozent der venezolanischen Haushalte sind an das Trinkwassernetz angeschlossen. Das heisst: Die effizienteste Form, die Menschen mit Wasser zu versorgen wäre über die Wasserleitung. Es ist lächerlich, Tankwagen zu kaufen, in Anbetracht des Ausmasses des Problems.
Diese neu gekauften Tankwägen werden am Ende 30 Millionen Dollar kosten, die nicht in das System investiert werden. Dazu kommt: Oft wohnen die Menschen am Berg, sie müssen dann 300 Stufen mit den gefüllten Kanistern laufen. Und das, obwohl es eigentlich ein Leitungsnetz gibt.
Was müsste getan werden?
Ich habe an einem Plan mitgearbeitet, wie die Versorgung wieder hergestellt werden könnte. Wir sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es genügen würde, die vorhandene Infrastruktur instand zu setzen – in erster Linie das System von Motoren und Pumpen. In nur drei Jahren könnten die Notsituation überwunden sein. Im Fall der Wasserversorgung sprechen wir von 1200 Millionen US-Dollar, das heisst 40 US-Dollar pro Kopf.
Um die elektrische Versorgung wieder vollständig herzustellen, wäre die notwendige Investition höher, etwa 400 US-Dollar Pro Kopf. Jeden Tag ist der Schaden ein bisschen grösser und die Wiederinstandsetzung wird schwieriger. In dem Moment, in dem die Wasserversorgung in Venezuela wieder einwandfrei funktioniert, können die Menschen sich sicher sein: Das gesamte Land wird sich ändern.
Das Gespräch führten Herminia Fernández und Karen Naundorf.