Die Wahl der früheren kroatischen Aussenministerin Marija Pejcinovic Buric zur neuen Europarat-Generalsekretärin war für viele eine Überraschung. Als Favorit für die Spitze des bereits siebzigjährigen Europarates mit seinen 47 Mitgliedsländern galt eigentlich der belgische Aussenminister Didier Reynders. Er war erheblich bekannter, galt aber offenbar manchen als zu forsch und zu sehr als Vertreter von EU-Europa.
Die 56-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin gilt als zurückhaltend, ja sogar medienscheu, aber zugleich als entschlossen. Sie bekommt von jenen, die sie in Strassburg verfolgen, gute Noten.
SRF News: Sie haben Ihr Amt in einem denkbar schwierigen Moment angetreten: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sind gewaltig unter Druck. Wie geht der Europarat damit um?
Marija Pejcinovic Buric: Der Europarat hilft Ländern dabei, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hochzuhalten und durchzusetzen. Wir haben also eine unterstützende Rolle. Aber klar, wir sehen beunruhigende Entwicklungen weltweit, auch innerhalb von Europa: mehr Korruption, mehr Populismus, mehr Nationalismus. Doch ich bin überzeugt: Die blosse Existenz des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention verhindert Schlimmeres. Allerdings ist es zurzeit nicht einfach für Dialog und Kooperation einzutreten.
Heisst das, das Beste, was der Europarat zurzeit erreichen, ist, Schlimmeres zu verhindern? Von Fortschritten also keine Spur mehr, sondern bestenfalls keine Aushöhlung der Demokratie...
Jedes Land, das dem Europarat beigetreten ist, hat sich zu dessen Werten verpflichtet. Einige Länder kamen nach dem Mauerfall, nach dem Ende des Kalten Krieges von weit her. Entsprechend schwierig gestalteten sich die Beitrittsverhandlungen. Jetzt müssen wir erkennen: Demokratie ist nie einfach da, ist nie garantiert. Wir müssen uns ständig von Neuem für sie engagieren.
Selbst bei den traditionellen Musterschülern im Europarat in West- und Nordeuropa gibt es Probleme – bis hin zu Morddrohungen gegen Politiker.
Ja, wir erleben solche Drohungen, in Grossbritannien, in Deutschland und anderswo. Die sozialen Medien verschaffen solchen Angriffen enorm rasch eine gewaltige Resonanz. Auch das ist eine Gefahr für die Demokratie.
Es ist im digitalen Zeitalter nicht einfacher geworden für die Demokratie.
Da stellen sich viele Fragen, auf die wir noch keine Antworten haben. Etwa auf die ungehinderte, massenhafte Verbreitung von Falschnachrichten und Lügenpropaganda. Wie verteidigen wir die Vorteile des Internets, ohne dass die Demokratie Schaden erleidet wegen der Nachteile? Der Europarat ist da gefordert. Die Demokratie funktioniert nur, wenn informierte Menschen vernunftgesteuerte Entscheidungen treffen und entsprechend wählen und abstimmen.
Demokratie ist nie einfach da, ist nie garantiert.
Länder wie Russland oder die Türkei werden vom Gerichtshof für Menschenrechte noch und noch verurteilt. Aber auch anderswo, von Aserbaidschan bis zur Ukraine, aber selbst in Ungarn oder Polen liegt vieles im Argen. Was können Sie tun?
Für die Europäische Menschenrechtskonvention selber, aber auch für jede andere Konvention des Europarates gibt es einen Überprüfungsmechanismus. Es gibt Inspektionen, es gibt Kritik. Bei schweren Verletzungen können wir Länder auch kurzfristig besuchen. Zuerst reden wir vertraulich mit einer Regierung. Das sind nicht immer angenehme Gespräche. Aber wir verteidigen hartnäckig unsere Werte und das, was wir in Europa in all den Jahrzehnten erreicht haben.
Nach der Annexion der Krim beschloss der Europarat Sanktionen gegen Russland. Der russischen Delegation wurde in der Parlamentarischen Versammlung das Stimmrecht entzogen. Worauf sie die Sitzungen gleich ganz boykottierte – und Russland seine Beitragszahlungen an den Europarat verweigerte. Jetzt ist Russland wieder dabei – was dem Europarat den Vorwurf einträgt, seine Prinzipien verkauft zu haben. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Es ist gut, dass Russland wieder voll dabei ist. Es ist auch wichtig, dass Russland nun seine Mitgliedsbeiträge wieder bezahlt. Es war nicht länger haltbar, dass Russland mit einem Bein drin war im Europarat und mit dem anderen draussen. Da brauchte es eine Lösung.
Der Europarat versteht sich – anders als die EU – als gesamteuropäische Organisation, die eben auch Russland, die Türkei und weitere Staaten am Ostrand Europas umfasst. Wir gehen nun davon aus, dass Russland wieder voll mitmacht und sich den Grundlagen des Europarates und der EMRK wieder ganz verpflichtet fühlt – und wir schaffen einen Mechanismus, wie wir künftig vorgehen wollen, wenn sich ein Land schwerwiegender Verstösse schuldig macht. Da brauchen wir eine klare Regelung.
Sind die Finanzprobleme Ihrer Organisation, die mit einem Budget von 440 Millionen Euro und rund 2500 Angestellten als der arme Cousin der EU gilt, damit gelöst?
Die russische Weigerung zu zahlen, verschärfte die Finanzkrise des Europarates. Sie war aber nicht deren Ursache. Wir müssen schon seit zehn Jahren den Gürtel ständig enger schnallen, weil unser Budget nicht der Inflation angepasst wurde.
Wir gehen davon aus, dass Russland wieder voll mitmacht und sich den Grundlagen des Europarates und der EMRK wieder ganz verpflichtet fühlt.
Wir haben immer weniger Geld, sollen jedoch immer mehr Aufgaben erfüllen – etwa auf dem Feld der künstlichen Intelligenz oder der Bekämpfung der modernen Sklaverei. Wir hoffen deshalb, dass künftig zumindest der Inflationsausgleich wieder erfolgt. Ohne nachhaltige Finanzierung ist kein nachhaltiges Arbeiten möglich.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger