Alles ist grün. Die Hügellandschaft. Die Hecken. Und selbst die Schafe, die mit grüner Farbe markiert sind. Das Navigationsgerät hat die Orientierung längst verloren. Doch Bauer Tom Fairfax erteilt zur Begrüssung freundlicherweise Geografie-Unterricht.
«Wir befinden uns am nördlichen Rand der Penninen, dem Mittelgebirge, welches die typische Hügellandschaft im Norden Englands bildet, und blicken auf die schottische Grenze.» Zwischen Wurmfarn und Brennnesseln marschieren wir einer Hecke entlang. Hinter alten Eichen taucht eine Steinmauer auf: «Dies ist die Grenze zwischen Schottland und England. Die Mauer dient in erster Linie dazu, dass die Kühe meines englischen Nachbarn nicht abhauen. Meine Schafe springen dagegen gelegentlich über die Mauer, dann bringt er sie zurück. Grenzen sind politisch und haben mit dem lokalen Alltag oft wenig zu tun», erklärt Fairfax.
Nicht nur die Schafe sind hier Grenzgänger. «Die Hälfte meiner Angestellten sind Schotten, die anderen Engländer. Unsere Einkäufe machen wir auf beiden Seiten der Grenze. Mein Hausarzt praktiziert in Schottland. Der Hausarzt meiner Frau dagegen in England. Für alles, was hier geschieht, ist die Grenze also ziemlich nebensächlich.»
«Scotland welcomes you» steht am Ortseingang von Coldstream. Die kleine Grenzstadt liegt zwei Kilometer nordöstlich von Tom Fairfax' Farm. 300 Seelen, 3 Pubs, 3 Nagelstudios, 2 Kirchen, 1 Militärmuseum.
Das 40 Quadratmeter grosse Privatmuseum an der Hauptstrasse ist ein martialisches Kuriositäten-Kabinett. An den Wänden hängen Gasmasken, Artilleriegeschosse und Uniformen. Daneben steht in Tarnkleidung der 56-jährige Trevor: Museumsdirektor, Armeeveteran, Schotte und Brite, wie er betont. Die Unabhängigkeit? Ein Desaster!
«Militärisch betrachtet tragen wir Briten alle die gleiche Uniform. Im Feld sind wir eine Streitkraft. Es gibt zwar in der britischen Armee zwei schottische und ein irisches Regiment, aber wir sind alle Briten. Es gibt keinen Grund, das zu ändern», sagt Trevor.
Vor dem Museum, das von zwei britischen Gardesoldaten aus Styropor bewacht wird, treffen wir eine ältere Dame. Unabhängigkeit? Das kommt nicht infrage. Schottland könne sich das gar nicht leisten. Was zusammengehöre, sollte auch zusammenbleiben.
Gibt es in Coldstream denn niemand, der die Unabhängigkeit unterstützt? Doch, doch, meint die ältere Dame: Gehen sie zu Donald, unserem Gemeindepräsidenten. Der sei ein glühender Anhänger der Unabhängigkeit und zudem ein ganz netter Mensch.
Donald Moffat ist Wirt, diplomierter Agronom und insbesondere überzeugtes Mitglied der schottischen Nationalpartei (SNP). Der umtriebige Gemeindepräsident hat nicht lange Zeit und kommt deshalb gleich zur Sache.
«Die Realität ist, dass auch die konservative Regierung in London nicht den Wählerwillen der Schotten repräsentiert. Die konservativen Tories sind in Schottland seit bald 70 Jahren eine Minderheit und werden eine Minderheit bleiben. Wir wollen endlich eine Regierung, die unsere Interessen wahrnimmt. Deshalb muss Schottland unabhängig werden.»
Ist das nicht eine Zwängerei? Seit dem letzten Unabhängigkeits-Referendum sind gerade mal sieben Jahre vergangen. 2014 haben sich rund 55 Prozent der Schottinnen und Schotten deutlich gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen.
Brexit als Schmiermittel für die Unabhängigkeit?
«Der Brexit hat die Ausgangslage völlig verändert. In Schottland haben 68 Prozent der Leute für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. Die Schotten votierten für Weltoffenheit, während die englischen Konservativen «Rule Britannia» gesungen, «take back control» skandiert und den Leuten erzählt haben, dass dank dem Brexit jede Woche 350 Millionen Pfund in den nationalen Gesundheitsdienst fliessen würden. Das waren alles populistische Lügen, um Rechtsnationalisten und Schwachköpfe bei Laune zu halten», findet Moffat deutliche Worte.
Die Schotten seien dagegen nicht so leichtgläubig. Nicht ohne Grund hätten sie das Penicillin und die erste Glühbirne erfunden. Er wolle damit keinesfalls sagen, alle Engländer seien Schwachköpfe. Seine Frau sei eine Engländerin. Tatsache sei jedoch, dass eine Mehrheit der Schottinnen und Schotten (gemäss aktuellen Umfragen sind es genau 51.3 Prozent) das Gefühl habe, in einer englischen Kolonie zu leben.
Die Unabhängigkeit ist das zentrale Versprechen der Schottischen Nationalpartei (SNP). Am virtuellen Parteitag der SNP Mitte September erklärte Regierungschefin Nicola Sturgeon ihre Absicht, ein erneutes Referendum über die schottische Unabhängigkeit abzuhalten. «Die Zukunft unserer Nation bestimmen wir Schottinnen und Schotten und nicht eine Regierung in London.»
Ohne Downing Street geht nichts
Die Scheidung vom Vereinigten Königreich solle legal erfolgen, betonte sie. Doch was heisst das? Können die Schotten selbst entscheiden, wann sie sich vom Königreich verabschieden, oder droht ein zweites Katalonien mit einem endlosen Streit mit der Zentralregierung? Der Mann, der diese Frage beantworten kann, heisst John Curtice. Der 68-jährige Professor unterrichtet an der Universität in Glasgow Politologie.
«Entscheide, welche die britische Verfassung tangieren, können nur vom Parlament in Westminister beschlossen werden. Die Union zwischen Schottland und dem Rest des Vereinigten Königreichs ist unbestritten eine solche Angelegenheit. Das heisst, das schottische Parlament hat keine Befugnisse in dieser Frage.» Das Unabhängigkeits-Referendum von 2014 sei erst abgehalten worden, nachdem die britische Regierung und das britische Parlament den Schotten die gesetzliche Befugnis dazu erteilt hätten. Ohne grünes Licht aus der Downing Street laufe also gar nichts.
Der Kopfschmuck des Duke of Wellington
Premierminister Boris Johnson hat unmissverständlich klargemacht, dass es ein solches Referendum genau einmal pro Generation gibt. Doch den Wunsch der Schottinnen und Schotten nach Unabhängigkeit wird London auf die Dauer nicht einfach ignorieren können. Dies wird zwei Tage später augenscheinlich. Einige Hundert Menschen marschieren mit schottischen Nationalflaggen durch die Innenstadt von Glasgow und skandieren ihre Forderung nach Freiheit.
Den Protestmarsch mitorganisiert hat Charlotte Ahmed. Die regelmässigen Demonstrationen seien immer friedlich, sagt die 60-jährige Lehrerin. Sie seien keine Fanatiker. Sie fühlten sich nicht weniger britisch als die Engländer, aber oft nicht ernst genommen. Um ihren Unwillen gegen die Regierung in London zu zeigen, hätten die Schottinnen und Schotten immer kreative Wege gefunden, erzählt Ahmed und deutet grinsend auf die bronzene Reiter-Statue vor dem Kunstmuseum.
«Das ist die Statue des Duke of Wellington. Die Statue zeigt symbolisch, wie die Menschen hier ihr Missfallen gegenüber aristokratischem Pomp, Obrigkeiten und englischen Kolonialisten zum Ausdruck bringen. Der Duke trägt seit Jahren einen orangen-weissen Hut auf dem Kopf. Einen Verkehrskegel. Regelmässig wird der Hut von den Behörden entfernt und eine Nacht später ist er wieder da. Dies ist die schottische Art von Trotz und Widerstand.»
Das Spiel mit dem orangen-weissen Plastikhut nahm seinen Anfang in den 1980er-Jahren. Angeblich kostet es die Behörden jedes Jahr weit über 10'000 Franken. Der Duke of Wellington war ein Feldherr im 19. Jahrhundert, später britischer Premierminister, vor allem aber war er ein Tory, und damit repräsentiere er das, was viele Schotten nicht mögen. «Diese Partei steht für Nationalismus. Sie hofiert die Reichen. Es ist die Partei der Oberklasse, die weit weg vom Volk ist und das ist definitiv nicht das, was Schottland ausmacht.»
Wie weit die Regierung in London und Schottland mittlerweile voneinander entfernt sind, zeigte sich abermals in diesem Sommer. Um den Zusammenhalt im Vereinigten Königreich zu kitten, rief das Familien-Ministerium in London zur Aktion «One Britain – One Nation» auf.
Die Kinder im ganzen Land sollten das Lied «Strong Britain, Great Nation» singen. Das Ministerium ermunterte alle Schulen im Vereinigten Königreich, das Lied im Unterricht jeweils am letzten Freitag im Juni vor den Ferien zu singen. Einige Schulen kamen dem therapeutischen Wunsch nach. Viele lehnten die patriotische Singstunde ab. Und in Schottland erübrigte sich die Frage. Das Ministerium hatte vergessen, dass in Schottland an jenem Tag die Ferien bereits angefangen hatten.