Immer, wenn Fabiola Campillai einen Moment Zeit hat, hört sie auf ihrem Handy ein bestimmtes mexikanische Liebeslied. Meistens singt sie mit.
Sie singt für ihren Mann. Aus Dankbarkeit: Denn seit sie blind ist, weicht er nicht mehr von ihrer Seite. In der Küche, im Badezimmer oder auf Wahlkampftour in der Innenstadt. «Es ist schlimm, von einem Tag auf den anderen blind zu sein», sagt die 38-Jährige. «Ich werde meine Augen nie mehr zurückbekommen, aber ich möchte diese Tragödie in eine Stärke verwandeln und kämpfen. Damit wir Chile verändern können.»
Im November 2019 sind Hunderttausende auf den Strassen und kämpfen gegen die Ungleichheit. Metro-Stationen brennen, Steine und Gummigeschosse fliegen. Mehr als 30 Menschen sterben. Ein Polizist feuert aus 50 Metern Entfernung eine Tränengasgranate direkt ins Gesicht von Fabiola. Durch den Aufprall wird ihr Schädel zertrümmert, die dreifache Mutter erblindet. Zwei Prothesen füllen nun ihre Augenhöhlen.
Polizisten auf der Anklagebank
Seit Beginn der Proteste Ende letzten Jahres haben mehr als 400 Chileninnen und Chilenen ihr Augenlicht verloren. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in mehr als 2600 Fällen wegen mutmasslicher Verletzung von Menschenrechten durch die Polizei. «Das ist so ungerecht, das sind keine Polizisten, das sind brutale Täter», sagt Fabiola Campillai.
«Aber diese Proteste haben einen landesweiten Wandel angestossen, Chile schreibt eine neue Verfassung und ich hoffe, die Bevölkerung wählt eine Regierung, welche den Wandel unterstützt.» Der Polizist, der sie angeschossen hat, wurde inzwischen vom Dienst suspendiert, er steht unter Hausarrest, die Staatsanwaltschaft fordert zwölf Jahre Haft.
Fabiola Campillai wartet aber nicht auf Gerechtigkeit. Sie arbeitet hart an ihrer politischen Karriere. «Als Senatorin will ich die extreme soziale Ungleichheit bekämpfen. Nahezu alle öffentlichen Dienstleistungen in Chile sind in privater Hand, darunter das Gesundheitssystem, die Bildung, die Pensionskasse oder die Wasserversorgung. Das generiert viel zu hohe Lebenshaltungskosten», sagt die 38-Jährige.
Hoffen auf neue Verfassung
Sie fordert ein gerechteres Chile, wie auch eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung: Vor einem Jahr stimmten knapp 80 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Denn die aktuelle Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur und wird von vielen für die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht.
Trotz ihrer breit abgestützten Forderungen: Fabiola Campillais Chancen, am Sonntag in den Senat gewählt zu werden, sind eher klein. Mit wenig Geld für den Wahlkampf und als Unabhängige ohne Parteibasis geht sie neben den anderen Kandidatinnen und Kandidaten unter.
An ihrer Botschaft ändert das jedoch nichts. Denn sie hat nicht nur ihre Augen verloren, sondern auch ihre Angst.