Russland war das erste Land, das einen Corona-Impfstoff präsentieren konnte. Bereits letzten Sommer wurde Sputnik V zugelassen. Doch die Impfbereitschaft bei den Russinnen und Russen ist vergleichsweise bescheiden. Erst rund 12 Prozent sind geimpft.
Momentan spitzt sich die Corona-Situation wieder zu, die Fallzahlen steigen, die Spitäler füllen sich. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin warnt eindringlich vor einer Überlastung des Gesundheitswesens in der Hauptstadt.
In einigen Provinzen wird daher nun ein Impfzwang für Mitarbeitende gewisser Branchen eingeführt. Allein in der russischen Hauptstadt sind zwei Millionen Menschen betroffen.
Putin regelt die grossen Dinge, die Geopolitik. Um das Coronavirus müssen sich die unteren Chargen kümmern.
In ihrem Erlass listen die Moskauer Behörden eine ganze Bandbreite an Berufen auf: Für Friseure, Kassiererinnen, Taxifahrer und Lehrerinnen sowie für viele andere Berufszweige ist eine Impfung nun verpflichtend. Weitere Provinzen in Russland haben sich der Regelung der Hauptstadt angeschlossen und ähnliche Regeln erlassen.
Doch wie erklärt sich die Impfskepsis in Russland? SRF-Korrespondent David Nauer spricht von zwei Argumentationen, die derzeit in Russland kursieren.
Die einen vertrauten dem Impfstoff Sputnik V schlichtweg nicht. «Ich höre oft Schauermärchen über angebliche Nebenwirkungen. Die Leute sagen dann, sie hätten irgendwo im Internet dieses oder jenes über den Impfstoff gelesen.» Andererseits seien viele Russinnen und Russen überzeugt, dass das Coronavirus gar nicht so gefährlich sei. Manche stellten sogar seine Existenz infrage.
Für Nauer spielte der Staat in der Vergangenheit eine «fatale Rolle», die die Impfskepsis im Land befeuerte. «Der Kreml, respektive Staatsmedien, haben schon im vergangenen Sommer den Eindruck erweckt, das Virus sei in Russland so gut wie besiegt.» Die Botschaft damals: Wenn die Pandemie irgendwo ein Problem ist, dann sicher nicht in Russland.
Kommt hinzu: Immer wieder haben staatliche Medien Geschichten über angeblich gefährliche westliche Impfstoffe verbreitet. «Dies offenbar mit dem Ziel, damit den russischen Impfstoff in besserem Licht dastehen zu lassen», so Nauer. Die Kampagne hatte allerdings den unbeabsichtigten Effekt, dass die Impfskepsis im Land generell stieg.
Der Anstoss zum Impfzwang kam allerdings nicht aus dem Kreml, sondern von den Provinzen und Bürgermeistern. Was sich durchaus in die bisherige Pandemiebekämpfung in Russland einreiht. «Diese Arbeitsteilung besteht seit Ausbruch der Pandemie: Putin regelt die grossen Dinge, die Geopolitik. Um das Coronavirus müssen sich die unteren Chargen kümmern», sagt Nauer.
Der «Sputnik-Moment» ist verpufft
Reibungslos funktioniert das jedoch nicht. Noch vor wenigen Wochen erklärte Putin, einen Impfzwang dürfe man nicht einführen. Nun ist er Tatsache. Die Provinzchefs machen in der Frage also offensichtlich, was sie für notwendig halten.
Der Korrespondent schliesst: «Russland hatte als erste Nation einen eigenen Impfstoff. Wenn es aber darum geht, diesen an den Mann oder die Frau zu bringen, dann funktioniert das nicht.» Der vermeintliche Vorsprung, den Russland im Kampf gegen das Coronavirus gehabt habe, sei damit wieder verloren – und das Land stehe womöglich vor einer weiteren, sehr gefährlichen Corona-Welle.