Die Eltern von Lina Attalah verhielten sich wohl ziemlich typisch. Die 37-jährige ägyptische Journalistin erzählt: «Jahrelang lasen mein Vater und meine Mutter die staatlich kontrollierten Zeitungen. Wie Millionen von Ägyptern.
Dann, im Zuge des «Arabischen Frühlings», gab es auf einmal neue, private Medien: unabhängiger, professioneller, einfach besser.» Doch nach dem Militärputsch von General Abdelfattah al-Sisi verschwanden fast alle wieder: Sie wurden schikaniert, verboten, wirtschaftlich ausgehungert. Die Rede ist von der «Sisifizierung» der Medienlandschaft.
Der gewachsene Appetit auf unabhängige Berichterstattung blieb.
«Übrig blieben die alten, noch enger am Gängelband geführten Staatsmedien sowie ein paar mehr oder minder freiwillig staatshörige Publikationen. Doch der während der Revolution gewachsene Appetit auf unabhängige Berichterstattung, der blieb.»
Freier, aber bedrängter Journalismus
Unabhängiger Journalismus – bloss: Kaum jemand befriedigt diesen Appetit. Zu den Ausnahmen gehört die Internetplattform «Mada Masr». Sie erhielt voriges Jahr vom International Press Institute IPI den renommierten Preis für Pioniere der Medienfreiheit.
Lina Attalah gehörte 2013 zu den Gründerinnen und ist bis heute die Chefredaktorin. Für die drahtige junge Frau mit der Kurzhaarfrisur stellte sich die simple Alternative: entweder den Journalismus aufgeben oder journalistisch etwas völlig Neues wagen. So rief sie «Mada Masr» ins Leben. Wie sie selber einräumt: «Ohne gross zu wissen, ob das überhaupt funktionieren kann.»
Inzwischen hat «Mada Masr» ein Überlebensmodell gefunden: mit Mitgliedern, mit Gönnern und indem die 32 Journalistinnen und Journalisten nebenbei mediennahe Dienstleistungen anbieten – von Beratungen bis zu Übersetzungen.
Und: «Mada Masr» fand ein Publikum. Auf Facebook zählt man 300'000 Nutzer. Vor der Blockierung durch die Behörden erreichte die Webseite eine halbe Million Leute. Jetzt gelangt das Publikum auf Umwegen, etwa über VPN-Zugänge, zu «Mada Masr».
Mehr Repression als je zuvor
Ägypten war nie ein Hort der Pressefreiheit, auch nicht unter den früheren Präsidenten Nasser, Sadat oder Mubarak. Jetzt jedoch sei es übler als jemals zuvor, sagt Lina Attalah und sieht «eine Mixtur aus Paranoia und plumpem militärischen Autoritarismus». Sisi und seine Leute regierten einfach mit eiserner Faust.
Unter Staatschef al-Sisi rutschte Ägypten ab auf einen der hintersten Ränge punkto Pressefreiheit. Es gibt Razzien, Einschüchterungsanrufe, Redaktionsschliessungen, es gibt Verhaftungen und gar Tote. Auch Lina Attalah war schon in Haft. Ja, es gebe Momente, da hätten sie und ihr Team Angst.
Dabei bildeten die Medien für die Regierung gar keine echte Gefahr. Das Regime sitze fest im Sattel. Eine organisierte, schlagkräftige Opposition fehle inzwischen völlig.
Wir fahren einfach fort, solange es irgendwie geht.
Die Existenz von «Mada Masr» ist eine prekäre, das ist Lina Attalah sehr bewusst: «Wir fahren einfach fort, solange es irgendwie geht.» Man dürfe sich, so Chefredaktorin Attalah, «nicht obsessiv mit der Frage nach dem Überleben beschäftigen» – weder mit dem publizistischen noch dem physischen.