Eine Mehrheit würde heute dem Brexit wohl nicht mehr zustimmen, dies zeigen repräsentative Umfragen. Viele Leute reagieren enttäuscht und resigniert, wenn man sie auf den Brexit anspricht. Einige auch zornig.
Gerade im vernachlässigten Norden Englands hat man ihnen häufig das Blaue vom Himmel versprochen. Eingetroffen davon ist wenig. Die Folgen der Scheidung von der EU zeigen sich heute im Alltag deutlich anders als einst versprochen.
Dramatischer Rückgang von EU-Exporten
Im banalsten Fall ist ein bestimmter Käse nicht mehr erhältlich, weil einem Händler in Frankreich der administrative Aufwand für den Export schlicht zu gross wurde.
Wirtschaftlich relevanter ist der Rückgang der britischen Exporte in die EU im Umfang von 15 bis 20 Prozent. Verursacht durch Handelshemmnisse, Zölle und Bürokratie.
Spürbar werden die Zumutungen des Brexits jeweils im Sommer, wenn die Britinnen und Briten in Dover stundenlang vor der Passkontrolle warten müssen, wenn sie ihre Ferien auf dem europäischen Festland verbringen wollen.
«Take back control» – wovon?
Besonders frustriert sind viele Britinnen und Briten, wenn sie die Migrationszahlen verfolgen. «Take back control» lautete der Slogan der Brexit-Befürworter. Damit war insbesondere die Kontrolle über die eigenen Grenzen gemeint. Seit dem Brexit hat die Einwanderung jedoch nicht ab-, sondern massiv zugenommen.
Premierminister Keir Starmer hat nach seiner Wahl versprochen, das Verhältnis zur EU neu zu justieren. Die Tonalität zwischen London und Brüssel hat sich tatsächlich merklich verbessert. Wohin die Reise geht, blieb jedoch bis heute ziemlich nebulös.
Klar und deutlich formuliert Starmer lediglich, was er nicht will: keine Wiedereinführung der Personenfreizügigkeit. Keine Rückkehr in den Binnenmarkt.
Brüssel verlangt Konzessionen
Begehrlichkeiten gibt es auf britischer Seite dagegen viele. London möchte Handelshemmnisse abbauen. Zeigt Interesse am europäischen Strommarkt und allenfalls an einem Landwirtschaftsabkommen. Ohne Konzessionen wird in Brüssel aber wohl nicht viel zu holen sein.
Über eine Trumpfkarte verfügt die britische Regierung jedoch: In den vergangenen fünf Jahren hat sich die geopolitische Lage dramatisch verändert.
Ein Sicherheitsabkommen zwischen London und Brüssel wäre im gegenseitigen Interesse. Es ist wohl kein Zufall, dass Starmer am kommenden Montag als Zaungast zu einem informellen Treffen der EU-Führungsspitzen nach Brüssel eingeladen wurde.
Keir Starmer zwischen den Lagern
Innenpolitisch versucht die britische Regierung den Brexit möglichst grossräumig zu umschiffen. Dieser ist in Grossbritannien bis heute kein politisches Ereignis, sondern ein Prozess. Eine offene Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.
Die Mehrheit der Labour-Wählerschaft war gegen den Brexit. Ein grosser Teil der konservativen Wählerschaft dafür. Zwischen diesen Lagern sitzt Keir Starmer auf dem Zaun.
Dabei wird er mit Argusaugen beobachtet. Von der bissigen Boulevardpresse, aber ebenso vom Rechtspopulisten Nigel Farage, die alle darauf warten, dass der Premierminister eine Bewegung macht, die sich bei den nächsten Wahlen politisch kapitalisieren lässt.