- Die EU ist sich uneins, ob sie ihre Ziele besser als Club der 27 oder erweitert um Staaten wie Serbien und Albanien erreichen kann.
- Bei einem Westbalkan-Gipfel in Slowenien stellte die EU am Mittwoch sechs Balkanländern einen Beitritt weiter in Aussicht, beharrt aber auf Reformen.
- Hoffnungen auf eine klare zeitliche Perspektive für eine Aufnahme in die EU wurden jedoch nicht erfüllt.
«Ich halte nichts von so einer Deadline, die zum Schluss uns unter Druck setzt», sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel. Sie sei allerdings dafür, dass die EU ihr Wort halte. Wenn die Bedingungen der Union erfüllt würden, müssten Länder beitreten können.
Merkel betonte, es gebe «ein immenses geostrategisches Interesse, diese Länder zu Mitgliedern der Europäischen Union zu machen» – auch vor dem Hintergrund von Sicherheits- und Verteidigungsfragen.
Wenn wir als Europäische Union keine ernsthafte Perspektive für diese Region bieten, dann müssen wir uns bewusst sein, dass andere Supermächte wie China, Russland oder auch die Türkei dort eine immer stärkere Rolle spielen.
Die sechs Balkanstaaten Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo arbeiten mittlerweile seit rund 20 Jahren mehr oder weniger intensiv auf einen EU-Beitritt hin. Vor allem wegen ihrer Lage inmitten der EU gelten sie als strategisch relevant.
Anhaltende Defizite in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Bekämpfung der organisierten Kriminalität haben es Erweiterungsskeptikern zuletzt aber leicht gemacht, Fortschritte im Aufnahmeprozess hinauszuzögern.
So weit sind die sechs Kandidaten
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Serbien und Montenegro
Bislang am weitesten fortgeschritten auf dem Weg hin zur Erfüllung der EU-Anforderungen für einen Beitritt ist Montenegro. Dort sei aber im rechtsstaatlichen Bereich, dem für die EU zentralen Bereich, noch viel zu tun, sagt Adelheid Wölfl, Südosteuropa-Korrespondentin der österreichischen Zeitung «Der Standard».
Immerhin: Mit der neuen Regierung gebe es Hoffnung, dass hier Fortschritte erzielt werden.
Ganz anders sei die Situation in Serbien, mit dem die EU ebenfalls seit Jahren über einen möglichen Beitritt spricht. «Die serbische Regierung hat in den letzten Jahren überhaupt keine Reformschritte gemacht», stellt die Journalistin fest. Das Parlament sei bedeutungslos, die Medien unter Kontrolle der Regierung. «Offensichtlich will die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic nicht in Richtung EU gehen.»
Trotzdem – oder gerade deswegen – geniesse Serbien die Unterstützung vom EU-Mitglied Ungarn, das unter Premier Viktor Orban einen ähnlichen, rechtspopulistisch-autokratischen Weg wie Serbien eingeschlagen habe. Allerdings wolle ein grosser Teil der Serben gar nicht in die EU. «Die Unterstützung in der Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist von allen sechs Westbalkan-Ländern in Serbien am kleinsten», so Wölfl.
Nordmazedonien und Albanien
Die EU-Kommission gab schon vor zwei Jahren grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Doch: «Die Verhandlungen kommen nicht voran», sagt SRF-Korrespondent Charles Liebherr.
Zwar habe Nordmazedonien in den vergangenen Jahren viele Reformen im Hinblick auf einen möglichen EU-Beitritt durchgeführt. «Das Land ist denn auch die glänzende Ausnahme», stellt Journalistin Wölfl fest. Trotz der grossen Fortschritte darf Nordmazedonien immer noch nicht mit der EU über einen Beitritt verhandeln – aufgrund des Vetos des Nachbarlands und EU-Mitglieds Bulgarien wegen eines Sprachenstreits. Zuvor hatten in den letzten Jahren zunächst Griechenland und dann Frankreich Gespräche verhindert. «Es ist ein Trauerspiel», so Wölfl.
Auch Albanien habe rechtsstaatliche Reformen durchgeführt und etwa korrupte Richter und Staatsanwälte aus dem System entfernt, so Wölfl. Allerdings sei die Entwicklung in anderen Bereichen weniger stark fortgeschritten, ausserdem gebe es autoritäre Tendenzen im Land. Weil Nordmazedonien und Albanien bei möglichen Verhandlungen über einen EU-Beitritt aneinander gebunden sind, sei es nun wichtig, dass Bulgarien sein Veto gegenüber Nordmazedonien zurückziehe.
Bosnien-Herzegowina und Kosovo
Am wenigsten weit fortgeschritten im Hinblick auf einen EU-Beitritt sind Bosnien-Herzegowina und Kosovo.
Bosnien-Herzegowina sei weiterhin von verschiedenen nationalistischen Kräften destabilisiert, welche den Staat Bosnien-Herzegowina zerstören wollten, so Wölfl. Dies verunmögliche derzeit eine ernsthafte Perspektive auf Verhandlungen mit der EU.
Schwierig ist auch die Situation von Kosovo, das nicht einmal von allen 27-EU-Ländern als eigenständiger Staat akzeptiert wird. Dieses jüngste europäische Land sei aber auch «ein Opfer der verantwortungslosen und unverständlichen EU-Politik», sagt die Journalistin. Die EU habe Kosovo stets eine Belohnung für Reformen versprochen, etwa die visafreie Reise in den EU-Raum. «Kosovo hat alles erfüllt, doch die EU hat dem Land nichts gegeben.» Grund dafür sei der Widerstand einiger EU-Länder. Entsprechend enttäuscht seien die Kosovaren von der EU – auch wenn die grosse Mehrheit der Bevölkerung möglichst rasch der EU beitreten möchte.
Keine Begeisterungsstürme
Grosse Begeisterung für die Gipfelergebnisse gab es bei den Südosteuropäern jedoch nicht. Der kosovarische Premierminister Albin Kurti sagte: «Natürlich bin ich kritisch. Es hätte besser sein können.» Er hege aber immer noch Hoffnung. «Innere Konsolidierung der EU und äussere Erweiterung schliessen einander nicht aus, ganz im Gegenteil.»
Serbiens Präsident Aleksandar Vucic sagte: «Alles, was ich an diesen beiden Tagen gehört habe, ist, dass es eine Erweiterungsperspektive gibt, aber auch, dass nicht alle Mitgliedstaaten denselben Appetit auf Erweiterung haben.»
Befürworter einer klaren EU-Beitrittsperspektive für diese Länder warnten beim Gipfel eindringlich vor den Gefahren eines weiteren Hinhaltens. «Wenn wir als Europäische Union keine ernsthafte Perspektive für diese Region bieten, dann müssen wir uns bewusst sein, dass andere Supermächte wie China, Russland oder auch die Türkei dort eine immer stärkere Rolle spielen», sagte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz.
SRF-Korrespondent: «Niemand rechnete ernsthaft mit neuer Dynamik»
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Für SRF-EU-Korrespondent Charles Liebherr kommt die Zementierung des Status quo in Slowenien nicht überraschend. «Nach so vielen Jahren ohne Fortschritte konnte niemand ernsthaft damit rechnen, dass nun plötzlich eine neue Dynamik in diesen komplizierten politischen Prozess kommt.» Entsprechend nüchtern seien auch die Reaktionen der Regierungschefs der Westbalkan-Staaten ausgefallen.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz war einer, der vor den Gefahren einer Hinhaltetaktik warnte. Könnten Grossmächte wie China oder Russland der EU den Rang im Westbalkan ablaufen? «Die Gefahr besteht durchaus», sagt der Korrespondent. Gerade die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass Länder wie China, Russland oder auch die Türkei um Einfluss in der Region buhlen.
«Gleichzeitig muss man festhalten: Der wichtigste Geldgeber bleibt die EU», relativiert Liebherr. Und auf dieses Geld sind die Staaten dringend angewiesen. Denn in allen sechs Balkan-Ländern seien vor allem Investitionen und Wirtschaftswachstum gefragt – auch, um die Abwanderung von jungen Menschen aufzuhalten, die in ihren Heimatländern keine Perspektive sehen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte: «Die Europäische Union ist nicht komplett ohne den Westbalkan.» Es gebe keinen Zweifel, dass das Ziel Erweiterung sei.
Wir müssen unser gemeinsames Funktionieren tiefgreifend verändern, weil es schon jetzt als 27 sehr schwierig ist.
Andere stehen einer möglichen Erweiterung hingegen deutlich verhaltener gegenüber. So setzte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Abschlusserklärung eine neue Einschränkung durch. Darin wird betont, dass die Integration neuer Mitglieder eine Weiterentwicklung der EU selbst voraussetzt.
Geld statt Versprechungen
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Um die Balkan-Länder trotzdem weiter zu Reformen zu ermuntern, sollen sie gemäss der Erklräung des EU-Gipfels allein in diesem Jahr über einen Wirtschafts- und Investitionsplan rund 1.1 Milliarden Euro an EU-Mitteln erhalten. Die EU-Kommission wolle dafür noch ein neues Paket in Höhe von 600 Millionen Euro vorschlagen, heisst es in dem Text. Insgesamt sollen in den kommenden sieben Jahren rund 30 Milliarden Euro für die Region mobilisiert werden – unter anderem auch über neue Garantien.
Mit dem Zusatz will sich vor allem Frankreich die Möglichkeit offenhalten, die Aufnahme neuer Mitglieder zu blockieren, wenn sich die EU in den kommenden Jahren aus französischer Sicht als nicht reformfähig erweisen sollte.
Denn schon jetzt ist die Staatengemeinschaft aus Sicht einiger Staaten oft nicht handlungsfähig genug. «Wir müssen unser gemeinsames Funktionieren tiefgreifend verändern, weil es schon jetzt als 27 sehr schwierig ist», sagte Macron nach dem Gipfel.
SRF 4 News, 06.10.2021, 07:20 Uhr
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dpa/reuters/imhm; fise