«Schickt sie nach Alexandroupoli», war in den 1960er Jahren ein gängiger Spruch in Griechenland, wenn man unliebsame Beamte aus Athen in die berufliche Verbannung schicken wollte. Die kleine Stadt ganz im Norden Griechenlands am Thrakischen Meer, nur 40 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, war damals sozusagen das (Karriere-)Ende Griechenlands. Doch heute liegt die kleine Hafenstadt an einem geostrategischen Brennpunkt.
Bosporus geschlossen
Der Grund ist, dass der Bosporus und das Schwarze Meer für ausländische Kriegsschiffe wegen des Ukrainekriegs faktisch nicht mehr zugänglich sind.
Alexandroupoli liegt 300 Kilometer westlich von Istanbul und ist deshalb zu einem Hub der Nato geworden. In regelmässigen Abständen, so im Ein- bis Zweimonatsrhythmus, legen riesige Schiffe der Nato, vor allem der US-Navy, an und entladen Kriegsgerät: «Das sind Panzer, zerlegte Apache-Helikopter, die noch im Hafen zusammengesetzt werden, alle möglichen Fahrzeuge, und während des Entladens kreisen zwei Apache-Helikopter über dem Hafen – ein riesiges Spektakel», erzählt Georgios Mavrommatis, Professor an der nahegelegenen Demokrit-Universität.
«Weil der Bosporus geschlossen ist, bildet der Hafen von Alexandroupoli für die Nato die neue Schnittstelle zwischen Süd- und Osteuropa», analysiert Ino Afentouli, die 20 Jahre für die Nato gearbeitet hat und heute das Institute of International Relations in Athen leitet.
Verbindung bis nach Tallin
Der Direktor des Hafens von Alexandroupoli, Kontantinos Chatzimichail, erklärt: «Von Alexandroupoli aus transportiert die Nato, in erster Linie die USA, ihr Kriegsmaterial an alle Stützpunkte in Osteuropa. Die Transporte führen nach Bulgarien, Rumänien, Polen, ins Baltikum und bis nach Tallin am finnischen Meerbusen.»
Weil aber insbesondere die US-Truppen regelmässig wechseln, werde einerseits Kriegsgerät in Alexandroupoli ausgeladen und nach Osteuropa weitertransportiert, und andererseits würden Panzer und Fahrzeuge von Alexandroupoli zurück in die USA verschifft.
Medienberichte, wonach auch Kriegsmaterial über Alexandroupoli in die Ukraine transportiert werde, verneint Chatzimichail kategorisch. Überprüfen lässt sich das nicht.
Von Alexandroupoli führt auch eine Verbindung an den rumänischen Schwarzmeerhafen Konstanza, der in der Vergangenheit als behelfsmässiger Umschlagshafen für den Getreidetransport aus der Ukraine diente. Alexandroupoli als Ersatz für Odessa oder Konstanza? Das wäre für Chatzimichail eine verlockende Perspektive. Allerdings verursachen die unterschiedlichen Spurweiten der Eisenbahnen zwischen Westeuropa und der früheren Sowjetunion Probleme.
LNG-Terminal
Keine Probleme bereitet ein anderes Projekt: Stolz zeigt Konstantinos Chatzimichail das Schiff «Castoro 10», das in diesen Tagen im Hafen von Alexandroupoli liegt. «Dieses Schiff verlegt die Pipelines vom LNG-Terminal vor Alexandroupoli zum bestehenden Gasnetz an Land.» Ab 2024 soll Flüssiggas aus den USA oder beispielsweise Katar ins Pipelinenetz eingespeist werden.
Alexandroupoli ist also nicht bloss ein militärischer Knotenpunkt. Vor allem laufen in der Region wichtige Erdgaspipelines zusammen. Gas aus der Ukraine und Aserbeidschan wird über die Türkei und Griechenland nach Italien oder Südosteuropa geleitet. Seit letztem Oktober ist auch die Gaspipeline IGB zwischen Griechenland und Bulgarien in Betrieb und versorgt den nördlichen Nachbarn mit Erdgas, nachdem Russland die Lieferungen gestoppt hat.
Eigentlich hätte der Hafen privatisiert werden sollen, aber angesichts seiner strategischen Bedeutung hat die griechische Regierung 2022 davon Abstand genommen.
Kreuzung der Geschichte
Alexandroupoli lag schon immer an einer geostrategischen Kreuzung der Geschichte. 1870 wurde die Stadt am Meer gegründet, als eine Nebenstrecke des Orientexpresses von Paris nach Konstantinopel mit der Küste, also mit Alexadroupoli, verbunden wurde. Den Leuchtturm im Hafen, das Wahrzeichen der Stadt, haben die Franzosen gebaut, die schönen Boulevards die Russen.
Die Stadt profitiert von der US-Navy, der Nato und ihrer Bedeutung als Energieknotenpunkt. Die Bars sind abends voll. Viele wohlhabende Bulgaren kaufen Immobilien in Alexandroupoli, viele Reiche aus Istanbul machen am Wochenende einen Abstecher in die griechische Hafenstadt, um ungestört zu feiern. Dafür nehmen sie auch 300 Kilometer Fahrt und einen Visumsantrag in Kauf. Alle zieht es nach Alexandroupoli.