Ungewohnte Töne im Wahlkampf von Binali Yildirim, dem AKP-Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul: «Einen guten Morgen! Wie geht es Ihnen?» Dass er dafür auf einen Spickzettel schauen muss, liegt daran, dass er auf Kurdisch grüsst – eine ganz neue Übung für den früheren türkischen Ministerpräsidenten, der jetzt Istanbuler Oberbürgermeister werden will.
Zu gerne würde die AKP am Sonntag kurdische Stimmen dazugewinnen, um am Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu vorbeizuziehen. Doch viel mehr als diesen Morgengruss kann die Regierungspartei den Kurden nicht bieten. Durch ihr Bündnis mit der nationalistischen MHP ist sie auf einen ultra-nationalistischen Kurs festgelegt.
Keine Zugeständnisse an die Kurden
Zugeständnisse an kurdische Forderungen, wie etwa nach Freilassung des inhaftierten Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas, kann sich die AKP nicht erlauben, ohne die Mehrheit im Parlament zu verlieren. Und selbst wenn sie es wagen würde, wäre es zu spät.
Ob sie für die AKP stimmen würden, wenn Demirtas freigelassen würde, fragte ein türkischer Reporter kurdische Wähler in Istanbul: «Nein», antwortet ein Mann. «Selbst wenn die Regierung Demirtas heute freilassen würde, müsste man damit rechnen, dass sie ihn morgen wieder einsperren.» Der AKP sei nicht mehr zu trauen.
Gehen die Kurden an die Urnen?
Mindestens 15 Prozent der zehn Millionen Wähler in Istanbul sind Kurden. Welche Parteien sie bevorzugen, ist bekannt: Laut Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda bekennen sich ein Drittel der Kurden in Istanbul konstant zur AKP, zwei Drittel sind HDP-Anhänger.
Die Frage sei allerdings, ob sie am Sonntag auch tatsächlich wählen gingen, gibt Agirdir zu bedenken. Von den HDP-Anhängern seien im März 80 Prozent an die Urnen gegangen, um für den Oppositionspolitiker Imamoglu zu stimmen; die übrigen 20 Prozent seien zuhause geblieben.
Für die Wahl der CHP ist Überwindung nötig
Vielen HDP-Wählern fällt es nicht leicht, für Imamoglu zu stimmen, auch wenn der Kurdenpolitiker Demirtas sie zuletzt aus seiner Gefängniszelle heraus dazu aufgerufen hatte.
Denn wenn es um die Kurdenfrage geht, hat sich die kemalistische CHP von Imamoglu bisher noch immer gegen sie gestellt. So würde Demirtas heute gar nicht im Gefängnis sitzen, wenn die CHP nicht im Parlament dafür gestimmt hätte, ihm die parlamentarische Immunität abzuerkennen.
Für die Anhänger der Kurdenpartei ist seit der Wahl vom 31. März ein starkes Motiv hinzugekommen, am Sonntag zur Wahl zu gehen: Nicht nur in Istanbul wurde das Ergebnis der Kommunalwahlen kassiert. Auch in mehreren kurdischen Gemeinden verweigerte die Wahlkommission der siegreichen HDP die Anerkennung ihres Wahlsieges – sie kürte einfach die weit unterlegenen AKP-Kandidaten zu Gewinnern.
Kurdische Rache an Erdogan und der AKP
Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan gab deshalb die Parole aus, den «Räubern» am 23. Juni in Istanbul die «Quittung» auszustellen für die Stimmen und Kommunen, die sie der HDP gestohlen hätten. «Die Wahl in Istanbul am 23. Juni wird für uns zugleich die Wahl in Sirnak sein, die Wahl in Mus, in Bitlis, in Tatvan und in Baglar. Wir werden uns in Istanbul am 23. Juni für die uns gestohlenen Kommunen rächen.»
Der Aufruf gehe nicht nur die Kurden an, betont Buldan. Wenn die AKP im Kurdengebiet mit diesen Methoden durchkomme, werde sie die bald im ganzen Land anwenden und sich überall über den Wählerwillen hinwegsetzen.