In Grossbritannien gehen die Wirren um den Austritt aus der EU weiter. Andrea Leadsom, die Ministerin für Parlamentsfragen, hat Theresa Mays Kabinett verlassen, um sich in Position für eine eventuelle Nachfolge Mays in Stellung zu bringen. Doch dass May am Freitag zurücktritt, glaubt Grossbritannien-Experte Gerhard Dannemann nicht.
SRF News: Wie deuten Sie den Rücktritt von Andrea Leadsom?
Gerhard Dannemann: Leadsom gehörte die ganze Zeit schon zum etwas härteren Brexit-Flügel der Partei. Sie hat schon länger angekündigt, dass sie verschiedene Sachen nicht mittragen könne und das Angebot, dass man im Unterhaus über ein zweites Referendum abstimmen könne, war ihr zu viel. Man muss auch sehen, dass sie zu den möglichen Kandidatinnen für die Nachfolge von Theresa May gehört. Da hat sich ein günstiger Zeitpunkt zum Abspringen angeboten.
Kürzlich hiess es, die Partei bereite ein zweites Misstrauensvotum gegen May vor. Nun ist es nicht so weit gekommen. Warum kann sich May trotz heftigster Kritik halten?
Ihr Rücktritt wird genauso hinausgeschoben wie der Brexit selbst, weil lauter schmerzhafte Entscheidungen nötig sind, und weil es schwierig ist, für irgendeine Position eine Mehrheit zu finden.
Ich sehe nicht, dass die EU im vierten Anlauf nachgeben wird.
Es ist ausserdem kein besonders günstiger Zeitpunkt, um Mays Amt zu übernehmen. Das heisst, von den vielen Leuten, die sie gerne beerben wollen, strebt niemand danach, es genau jetzt zu tun. Denn die Situation ist als solche schwierig, das liegt nicht nur an der Person von Theresa May.
Momentan meldet die britische «Times», May werde am Freitag zurücktreten. Was ist von solchen Meldungen zu halten?
Das ist durchaus möglich. May wird morgen den Vorsitzenden des Hinterbänkler-Komitees treffen. Dieses ist verantwortlich für eine eventuelle Nachfolge und es könnte im Prinzip May stürzen. Allerdings haben sie den Joker schon Ende letzten Jahres gezogen.
Sie dürfen nur einmal pro Jahr darüber abstimmen, ob die Parteivorsitzende und damit die Premierministerin abgelöst wird. Der Vorsitzende Graham Brady wird darauf drängen, dass May einen definitiven Zeitpunkt nennt. Der könnte durchaus am Freitag sein. Ich glaube allerdings eher nicht.
Bis dahin haben wir noch nicht mal die Ergebnisse der Europawahl. Auch sonst sehe ich nicht die Dringlichkeit, dass sich jemand sofort einer Abstimmung stellen würde, wer Nachfolger wird. Sehr lange kann es aber nicht mehr dauern.
Was könnte ein Wechsel an der Regierungsspitze in Grossbritannien überhaupt an dieser verfahrenen Situation ändern?
Relativ wenig. Es sieht danach aus, als ob wer immer Theresa May nachfolgt, einen härteren Kurs einschlagen will, den Brexit härter gestalten will. Da könnte man noch einmal einen Parlamentsbeschluss herbeiführen, dass man alles, was man mit der EU ausgehandelt hat, annimmt – mit Ausnahme des irischen Backstops. Und dann könnte man versuchen, das ein viertes Mal mit der EU zu verhandeln.
Beide grossen Parteien wollen keine Neuwahl, weil die möglicherweise von der sich neu unter Nigel Farage firmierten Brexit-Partei gewonnen werden könnte.
Ich sehe allerdings nicht, dass die EU im vierten Anlauf nachgeben wird. Und dann ist man genau wieder da, wo man vorher war. Es sind ja dieselben Parlamentarier im Unterhaus. Die Mehrheiten werden sich nicht ändern.
Beide grossen Parteien wollen keine Neuwahl, weil die möglicherweise von der sich neu unter Nigel Farage firmierten Brexit-Partei gewonnen werden könnte. So sehe ich nicht, dass irgendwelche grossen Schritte zu erwarten sind und dass eine neue Person deutlich mehr Spielraum hätte als Theresa May hat.
Das Gespräch führte Roger Aebli.