1005 Euro netto pro Monat. So viel verdienen junge Spanierinnen und Spanier im Durchschnitt. Eine Wohnung aber kostet durchschnittlich 944 Euro. Die Rechnung ist schnell gemacht: Für alles andere – Essen, Mobilität, Kleider und Freizeit – bleiben monatlich gerade mal 61 Euro übrig. «Das ist offensichtlich unmöglich», sagt Andrea González. Die 23-Jährige ist Präsidentin des Consejo de la Juventud de España, des spanischen Jugendrats, der halbjährlich einen umfangreichen Bericht zur Lage der Jugend verfasst.
Ausziehen mit über 30
Für die grosse Mehrheit der jungen Spanierinnen und Spanier bleibt nur ein Ausweg: Ganze 84 Prozent von ihnen wohnen weiter bei den Eltern. Das durchschnittliche Auszugsalter ist inzwischen auf knapp über 30 gestiegen. Das ist Rang 4 in Europa.
«Die jungen Spanierinnen und Spanier können sich nicht von ihrem Elternhaus lösen. Sie werden erst eigenständig, wenn sie nicht mehr jung sind. Vorher geht es nicht», sagt Andrea González. Das habe auch psychische Folgen. «Suizid ist die häufigste Todesursache unter jungen Menschen – vor Krebs und Verkehrsunfällen. Zukunftsängste sind ein reales Problem.»
Tiefe Löhne, hohe Arbeitslosigkeit
Die Wohnungsmieten, die in den letzten Jahren stetig gestiegen sind, sind dabei nur ein Teil des Problems. Der andere ist der Arbeitsmarkt: Tiefe Löhne und hohe Arbeitslosenzahlen prägen das Land, noch immer, auch wenn die Wirtschaft nach Corona wieder zugelegt hat. Besonders für junge Spanierinnen und Spanier ist und bleibt der Einstieg in die Arbeitswelt schwierig.
Man sagte uns: Studiert, studiert, studiert, das ist sehr wichtig! Dann machen wir unseren Abschluss und merken: was nun?
An fehlender Bildung liege es nicht, sagt die Präsidentin des Jugendrats, im Gegenteil: «Wir sind eine Generation mit besten Ausbildungen und Qualifikationen. Aber 40 Prozent der jungen Arbeitnehmenden müssen Jobs annehmen, für die sie überqualifiziert sind. Das ist sehr frustrierend. Man sagte uns: Studiert, studiert, studiert, das ist sehr wichtig! Dann machen wir unseren Abschluss und merken: was nun?»
Eine Arbeitsstelle finden viele nur in den grossen Städten. Also dort, wo sie sich kaum eine Wohnung leisten können. Auch beste Voraussetzungen helfen nur beschränkt. Das zeigt das Beispiel von Belén Llorente. Die 25-Jährige hatte einiges vorzuweisen, als sie sich in Madrid auf Wohnungssuche machte: Einen Uni-Abschluss mit Master, einige Jahre Berufserfahrung und eine Festanstellung beim Staat.
Eine Wohnung für sich allein aber hätte sie sich mit ihrem Lohn von 1400 Euro nicht leisten können. Deshalb wohnt sie in einer WG, die sie auch nur mit Glück gefunden habe: «Wir verschickten vielleicht 50 bis 60 Anfragen für Wohnungen. Jeden Tag. Es war verrückt.»
In einer Wohnung für mich sehe ich mich erst mit etwa 35 Jahren.
Jetzt teilt sie die Wohnung mit zwei Mitbewohnerinnen. Ein Leben ohne WG sei weit weg, sagt Belén. «In einer Wohnung für mich sehe ich mich erst mit etwa 35 Jahren. Oder vielleicht etwas früher, wenn ich wirtschaftlich noch etwas vorwärtsgekommen bin. Aber jetzt schon: auf keinen Fall!»
WG mit dem Ex
Die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt betrifft nicht nur die Jungen. Auch Familien haben es schwer. Und erst recht, wenn es zur Trennung kommt. Das weiss Delia Rodriguez. Sie ist Familienanwältin und führt eine Kanzlei in Madrid. «Dreissig bis vierzig Prozent der Menschen, die zu uns ins Büro kommen, haben ernsthafte finanzielle Probleme. Das geht so weit, dass viele, nachdem sie sich informiert haben, sagen: ‹Ich lasse mich besser nicht scheiden.›»
Es gebe immer mehr Paare, die weiter zusammenwohnten, obwohl sie eigentlich getrennt seien, so die Anwältin. Besonders heikel ist dies, wenn Paare zerstritten sind oder gar gewalttätig werden. «Eine Wohnung ist ein Käfig für Personen – auch Kinder natürlich -, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Das ist ein sehr wichtiges Thema.»
Die Wohnungsnot ist in Spanien allgegenwärtig. Und steht auch in der politischen Agenda der Parteien weit oben. Doch erst seit letztem Jahr hat Spanien ein Wohnungsgesetz. Es beinhaltet verschiedene Massnahmen, wie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die Beschränkung von Mietzinserhöhungen oder einen neuen Index, der eine Obergrenze für Mieten festlegt. Der sozialistische Premier Pedro Sánchez ist von der Wirkung überzeugt: «Dieses Wohnungsgesetz wird ein enormes Problem – vor allem für unsere jungen Menschen – lösen.»
Die Massnahmen kommen aber nicht überall gut an. Sie wirkten abschreckend, sagt etwa Francisco Iñareta. Er ist Mediensprecher von Idealista, einem grossen Immobilienportal, das auch Berichte zum Wohnungsmarkt publiziert. Zu viel sei noch unklar: «Das hat dazu geführt, dass viele Hausbesitzerinnen und -besitzer ihre Wohnungen vom Markt genommen haben und warten, bis wieder mehr politische und rechtliche Klarheit herrscht.»
Deshalb sei das Angebot an Wohnungen knapper geworden, was wiederum die Preise in die Höhe treibe. Und so könnten sich gerade weniger gut Verdienende kaum mehr eine Wohnung leisten. «Vor allem die Leute, für die das Wohnungsgesetz gemacht wurde, leiden am meisten unter den Massnahmen. Das ist absurd und merkwürdig.»
So sehen es auch Vertreterinnen und Vertreter der Immobilienbranche und der konservativen, politischen Opposition im Land. Ihre Lösung für die Wohnungsnot: Bauen, bauen, bauen – und dann richtet es der Markt.
Bauboom um die Jahrtausendwende
Das wäre keine neue Idee für Spanien. Aber auch keine gute, findet Daniel Sorando. Der Professor an der Universität von Zaragoza kennt sich aus in der Geschichte des Wohnbaus.
Er verweist auf die frühen 2000er-Jahre. Damals wurden in Spanien jährlich mehrere hunderttausend Wohnungen gebaut – mehr als in Frankreich und Deutschland zusammen. «Das Angebot nahm enorm zu, aber die Preise fielen nicht, sondern stiegen weiter. Der Wohnungsmarkt funktioniert nicht wie der Markt für andere Produkte, Waren und Dienstleistungen. Es ist ein Markt, der eine grosse spekulative Dimension hat.»
Den Ansatz der aktuellen Regierung – etwa die Beschränkung der Mietpreise – hält Daniel Sorando für vielversprechender. Auch wenn es mit der Umsetzung hapert.
In Madrid zum Beispiel weigert sich die bürgerliche Regionalregierung, die Vorgaben der nationalen sozialistischen Regierung umzusetzen. Im links regierten Katalonien hingegen sind diesen Monat die ersten neuen Regeln in Kraft getreten. «Dies wird sehr interessant, ein natürliches Experiment. Wir werden vergleichen können, was mit den Mieten in Madrid und mit jenen in Barcelona passiert, in zwei Regionen, die sich ziemlich ähnlich sind.»
Wie Spanien zur Wohneigentums-Nation wurde
Historisch gesehen hat Spanien seine Wohnpolitik bereits einmal komplett umgekrempelt. Bis in die 1950er-Jahre nämlich wohnten die Spanierinnen und Spanier noch grösstenteils zur Miete. Das Regime unter Diktator Franco stellte dann die Weichen neu, Wohnungsminister José Luis de Arrese setzte konsequent auf die Förderung von Wohneigentum. Sein Motto wurde legendär: «No queremos una España de proletarios, sino de propietarios.» Wir wollen nicht ein Spanien der Proletarier, sondern der Eigentümer.
Damit habe die Regierung Franco zwei Ziele verfolgt, sagt Wohnbau-Experte Daniel Sorando: «Das Franco-Regime wollte die Arbeiterinnen und Arbeiter günstig stimmen, indem es das Wohnungsproblem löste – das im Bürgerkrieg unter anderem durch seine Bomben entstanden war ... Gleichzeitig sollte es die Bevölkerung konservativer machen. Denn wer Eigentum besitzt, wird auch politisch konservativer.»
In der Folge wurde Spanien zu einem Land von Hauseigentümerinnen und -eigentümern. Und auch heute noch wohnen 76 Prozent der Menschen in den eigenen vier Wänden (zum Vergleich: In der Schweiz sind es nur 36 Prozent).
Generation Miete
Der Anteil geht zurück, langsam, aber stetig. Die aktuelle Preissituation auf dem Wohnungsmarkt in Spanien macht klar: Wer keine Aussicht darauf hat, eine Wohnung zu erben, kann sich heute kaum mehr Hoffnungen auf Wohneigentum machen. Ganz anders noch als in den vorigen Generationen.