Unbeliebter geht es kaum: Nur noch 9,1 Prozent der Chilenen stehen laut einer Umfrage hinter der Politik ihres Präsidenten. Seit Wochen gehen täglich Tausende auf die Strassen. Der Funke, der die Wut entzündete, war eine geplante Erhöhung der Preise für die U-Bahn Tickets. Doch die Ursachen liegen tiefer: Die Einkommen sind in Chile sehr ungleich verteilt.
Nun hat Präsident Sebastián Piñera den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen und Massnahmen verkündet, die nur zwei mögliche Schlüsse zulassen: Piñera ist taub für die Forderungen der Demonstrierenden, oder er will sie nicht hören.
Applaus von rechts, Kritik von links
Besonders häufig ist derzeit das Wort «Würde» auf den Strassen zu hören: Würdige Löhne. Würdige Renten. Eine würdige Gesundheitsversorgung. Wenn die Regierung nun verspricht, den Mindestlohn auf umgerechnet 467 Franken zu erhöhen, dann liegt dies immer noch weit unter den Forderungen der Demonstranten.
Zudem soll es – wenn es nach Piñera geht – bald verboten sein, vermummt zu demonstrieren, und die Polizei soll gestärkt werden. Applaus bekam Piñera für diese Ankündigung von rechten Parlamentariern. Die Opposition sieht in diesen Schritten nichts anderes als den Versuch, «das Feuer mit Benzin zu löschen».
Als die Proteste begannen, behauptete Piñera zunächst, dass das Land «im Krieg» sei – und schickte das Militär auf die Strassen, zum ersten Mal seit Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Das riss alte Wunden auf und fachte die Wut der Demonstranten an. Denn die allermeisten derer, die auf die Strassen gehen, protestieren friedlich. Ihnen geht es um die Ungleichheit im Land.
Proteste dürften weitergehen
Viele Rentner müssen bis ins hohe Alter arbeiten um zu überleben, die Grundrente liegt nicht einmal bei 150 Franken im Monat. Die Hälfte der Chilenen muss mit umgerechnet 580 Franken monatlich auskommen. Selbst eine öffentliche Universität kostet etwa 500 Franken im Monat.
Und wer eine vernünftige Gesundheitsversorgung will, muss dafür bezahlen. Nicht, weil die Ärzte im öffentlichen System schlecht sind. Sondern, weil dort das Geld fehlt. Auch Krankenschwestern und Ärzte haben in den letzten Tagen an vielen Orten protestiert: Sie fordern mehr Mittel, um die Patienten angemessen versorgen zu können.
In den letzten Tagen war es die Strategie der Polizei, mit Tränengas und Gummigeschossen Menschenansammlungen sofort zu zerstreuen, um Massenproteste unmöglich zu machen. Mit einem schnellen Ende der Proteste ist nicht zu rechnen – und das, obwohl die Polizei extrem hart gegen die Demonstranten vorgeht.
Streik wird angedroht
Tausende wurden bereits verhaftet, mindestens vier Menschen wurden von Sicherheitskräften getötet. Menschenrechtsorganisationen sind ständig dabei, die Zahlen der Verletzten zu aktualisieren. Denn den offiziellen Angaben glauben längst nicht mehr alle. Insbesondere, seit der Direktor des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in einem Interview sagte, er könne keine Systematik in der Polizeigewalt erkennen. Seine Mitarbeiter widersprachen ihm am Donnerstag öffentlich – und forderten seinen Rücktritt.
Wichtige Gewerkschaften haben dem Präsident ein Ultimatum gestellt: Wenn er nicht auf ihre Forderungen eingeht – dazu gehören ein höherer Mindestlohn und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung – wollen sie das Land lahmlegen, spätestens ab nächstem Dienstag.