Just über das Thema, das alle interessiert, dürfen Kirill Martynow und seine Redaktion gar nicht mehr berichten: über den Krieg in der Ukraine. Denn würde die «Novaya Gazeta», deren Vizechefredaktor er ist, das tun, müsste sie die Sprachanordnungen des Kremls befolgen. Das heisst: Sie müsste lügen.
«Doch alles rund um den Krieg, die humanitären Folgen, die sozialen Verwerfungen, den Auszug ausländischer Firmen – all das sind Themen», sagt er. Und das Interesse an der Berichterstattung einer der allerletzten unabhängigen Zeitungen im Land scheint enorm.
Die «Gazeta» erreicht, vor allem online, neuerdings täglich Millionen. Doch die Berichterstattung sei, so Martynow, eine Gratwanderung: «Am laufenden Band werden neue Gesetze produziert, doch im Grunde herrscht nun die reine Willkür. Wer sein Nachbarland mit Raketen angreift, ist auch zu Hause zu allem bereit.»
Deshalb ist Martynow sehr besorgt um die Sicherheit seiner zahlreichen Journalistinnen und Journalisten: «Die Behörden kennen unsere Namen, unsere Adressen. Sie kennen uns und wissen, wo sie uns finden», sagt er in einer Webdiskussion des International Press Institute und des Wiener Presseclubs Concordia.
Junges Lesepublikum
Etwas anders ist die Situation von Galina Timtschenko. Ihre Internetzeitung «Meduza» hat den Sitz im lettischen Riga. Einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien indes in Moskau, müssen dort jedoch anonym arbeiten: «Und wir haben Leute in der Ukraine selber, die dort sehr gut mit ukrainischen Kollegen zusammenarbeiten.»
Da «Meduza» vom Ausland aus operiert, ist hier der Krieg natürlich das zentrale Thema – und ein sehr gefragtes. Schwergewichtig junge Leute nutzen die Internetzeitung. Mehr als die Hälfte sind unter 35.
Galina Timtschenko geht davon aus, dass «weitaus mehr Russinnen und Russen den Krieg ablehnen, als vermutet wird. Umfragen, die starke Unterstützung für das Putin-Regime ausweisen, müssen wir misstrauen, es gibt überhaupt keine seriösen Erhebungen im Land.» Der Kreml verliere auch in Russland selber den Informationskrieg. Selbst die immer schärfere Zensur könne den Trend nicht umkehren.
Digitaler eiserner Vorhang nicht ausgeschlossen
Aus der früher eher zurückhaltenden und selten sehr aktiven Zensurbehörde sei ein allmächtiger Apparat geworden. Doch Kirill Martynow ist überzeugt: Um die Russen ganz abzuschneiden von der Wahrheit, müsste das Regime einen regelrechten «digitalen eisernen Vorhang», eine Art «Moskauer Mauer» errichten: «Ich schliesse nicht aus, dass das geschieht.»
Timtschenko spricht jetzt schon von einer durch ihre Herrscher «ausgelöschten Nation». Und Martynow bedauert vor allem seine jungen Landsleute: «Ich selber bin heute 40 und bin noch in einem freien Land aufgewachsen, das mit der Welt vernetzt war. Doch welche Perspektive hat ein heute 20-Jähriger?»