Was steht für Präsident Macron auf dem Spiel? Präsident Macron riskiert den Verlust der absoluten Mehrheit. Falls sein Parteienbündnis Ensemble weniger als die dafür notwendigen 289 Mandate erzielt, wäre er auf Koalitionen und Kompromisse angewiesen. Damit wäre es für Macron schwieriger, seine Reformpläne umzusetzen. Gleichzeitig würde die Rolle des Parlaments als Entscheidungsträger aufgewertet.
Die grösste Herausforderung für Präsident Macron wäre eine absolute Mehrheit des Linksbündnisses NUPES – dann müsste Macron die Führung der Innen- und Wirtschaftspolitik weitgehend einem linken Premier überlassen.
Welche Rolle spielt das neue Linksbündnis bei dieser Wahl? Parlamentswahlen in Frankreich sind Majorzwahlen. In 577 Wahlkreisen wird je ein Sitz besetzt. Im ersten Wahlgang braucht es eine absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang genügt eine relative Mehrheit; der Sitz geht an die grösste politische Kraft.
Die Wahlallianz unter Führung von Jean-Luc Mélenchon hat die Kräfte der traditionell zersplitterten linken Parteien gebündelt. Im ersten Wahlgang erreichte das Linksbündnis NUPES praktisch gleich viele Stimmen wie die Wahlallianz hinter Präsident Macron. Für den zweiten Wahlgang haben sich 421 Kandidatinnen und Kandidatinnen von Ensemble qualifiziert, von NUPES 391, von Marine Le Pens Rassemblement National 208 und von den konservativen Les Républicains 75.
Warum wurden im ersten Wahlgang nur fünf von 577 Sitzen besetzt? Das Wahlrecht setzt für eine Wahl in der ersten Runde hohe Hürden. Es verlangt nicht nur eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gewählt ist nur, wer gleichzeitig auch die Stimmen von mindestens 25 Prozent der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler erreicht. Dies wird umso schwieriger, je tiefer die Stimmbeteiligung ist. Am vergangenen Wochenende fiel sie auf ein Rekordtief von 47.5 Prozent.
Wie wird der 2. Wahlgang entschieden? Für den zweiten Wahlgang qualifizieren sich in jedem Wahlkreis die beiden Kandidatinnen und Kandidaten mit den meisten Stimmen. Drittplatzierte können antreten, wenn sie mindestens 12.5 Prozent der wahlberechtigten Stimmen erreicht haben. Darum hat auch hier die tiefe Stimmbeteiligung Folgen: Eine solche «Triangulaire» gibt es nur in sieben von 572 Wahlkreisen, die noch zu besetzen sind. Gewählt ist in diesem Fall die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen.
Warum schneidet das Rassemblement Nationale bei Parlamentswahlen schlechter ab als Parteichefin Marine Le Pen bei den Präsidentenwahlen? Das Rassemblement National hat regelmässig Probleme, seine Basis für Parlamentswahlen zu mobilisieren. Es erreichte am vergangenen Sonntag einen Stimmenanteil von 18.7 Prozent und damit deutlich weniger als die 23.15 Prozent von Marine Le Pen im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl.
Welche Prognosen gibt es? Die Allianz Ensemble von Präsident Macron dürfte der stärkste Block bleiben. Ob es für eine absolute Mehrheit reicht, ist aber fraglich. Gut positioniert wären demnach die konservativen Les Républicains. Sie könnten im neuen Parlament auch mit einer relativ kleinen Fraktion von 50 bis 75 Sitzen Einfluss nehmen, wenn sie für eine Macron-Regierung als Mehrheitsbeschafferin wichtig sind. Die Parteien des linken Wahlbündnisses dürften indes zweitstärkste Kraft werden und so die Opposition anführen.