Grüne Wiesen, ein idyllischer Sommertag. Die mächtige Steinhalde gleich oberhalb des Dorfs liegt ruhig in der Sonne. Der Rutschhang, Igl Rutsch auf Romanisch, ist der sichtbare Teil des Problems. Doch eigentlich rutscht der ganze Berg und mit ihm auch das Dorf Brienz.
Georgin Bonifazi ist 55 Jahre alt. Der Vater von vier Kindern ist in Brienz aufgewachsen. Er ist Landwirt, wie sein Vater. «Angst um unser Leben haben wir nicht. Es ist alles so gut überwacht. Aber wir machen uns grosse Gedanken über die Zukunft», erklärt Bonifazi die Situation der Brienzer. «Momentan haben wir das Gefühl, dass wir an einem Faden hängen, von dem wir nicht wissen, wann er reisst.»
Dann flucht man kurz drüber und denkt, was das für ein Seich ist.
Das Land der Bonifazis befindet sich zu einem grossen Teil im Rutschgebiet. «Wenn man auf einer Wiese zwei, drei Monate nicht mehr war und zurückkommt, sieht man wieder einen Riss oder eine Ausbuchtung mehr. Dann flucht man kurz drüber und denkt, was das für ein Seich ist», erzählt Georgin Bonifazi.
Neben Vater Georgin sitzt Sohn Andri Bonifazi. Er sagt, Brienz sei sein Heimatdorf, in dem er sich wohlfühle: «Wenn es nicht rutschen würde, wäre es ein ganz normales Dörfchen – wie jedes andere.»
Der 22-Jährige beginnt in wenigen Wochen sein Praktikum auf einem Bauernbetrieb im Kanton Bern. Nach der Ausbildung würde er am liebsten wieder nach Brienz zurückkommen. «Ich bin optimistisch und denke, dass man die Rutschung irgendwie aufhalten kann», sagt er.
Ob sich der gigantische Rutsch wirklich stoppen lässt, ist unklar. Seit Messbeginn 1924 bewegte sich Brienz einige wenige Zentimeter pro Jahr. Doch vor etwa zehn Jahren begann der Hang plötzlich schneller zu rutschen, Anfang dieses Jahres war es im Schnitt ein Meter pro Jahr.
Seit letztem Jahr untersuchen Geologen den Untergrund und versuchen herauszufinden, wie die Rutschung stabilisiert werden könnte. In zwei Jahren sollen Ergebnisse vorliegen. Doch die Zeit drängt.
Im Mai dieses Jahres hiess es, dass im schlimmsten Fall ein grosser Bergsturz drohe, der das Dorf mehr als 20 Meter unter sich begraben würde. Deshalb gibt es seit kurzem Evakuationspläne.
Die Familie Bonifazi müsste sich und ihre Tiere innert sechs Stunden in Sicherheit bringen. «Als zum ersten Mal von Evakuation geredet wurde, ist uns das schon brutal eingefahren», erinnert sich Georgin Bonifazi.
Im katholisch geprägten Brienz wohnen knapp 100 Menschen. Auf der grössten Glocke im Kirchturm ist auf Latein eine Bitte an den Schutzpatron Calixtus eingraviert: «Durch deine mächtige Hand, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, o heiliger Patron, diesen Ort.»
Die Glocke stammt aus dem Jahr 1912. Doch bereits damals vertrauten die Brienzer nicht nur auf Gott, sondern auch auf die Wissenschaft. Mit einem Kanal versuchten sie 1907 das Gelände oberhalb des Rutsches zu entwässern und so zu stabilisieren.
Heute wird der Berg unter anderem mit GPS und Radar überwacht. Gleich unter der Kirche steht ein kleines Holzhäuschen mit direktem Blick auf den Rutschhang. Eine Anlage scannt den Hang alle zwei Stunden und schlägt bei einem drohenden Bergsturz Alarm. Bei Steinschlag wird die Verbindungsstrasse automatisch gesperrt. Alltag in Brienz.
Trotz der drohenden Gefahr und der ungewissen Zukunft hat der Rutsch für die Brienzer auch etwas Anziehendes: «Als Kind war es sehr faszinierend zu sehen, wie die Steine runterkommen», sagt Andri Bonifazi.
Und Vater Georgin erzählt davon, wie er erst vor Kurzem beobachtet hatte, dass einige grössere Steine den Hang runterpolterten: «Wenn man dann mal wirklich sieht, wie die ‹Siechen› kommen, ist das eben schon noch faszinierend. Man hofft dann immer, dass sie auch anhalten.»
Vor zwei Jahren baute die Familie Bonifazi ein neues Haus in Brienz. Es sollte eine Investition in die Zukunft sein, fürs Alter. Mittlerweile darf im Dorf nicht mehr gebaut werden, weil der Boden zu stark rutscht.
Die Familie Bonifazi hat viel investiert in ihr Haus, in den Boden und in den Betrieb. Einen Plan B gibt es bis jetzt nicht. «Wenn wir nicht müssen, gehen wir nicht von hier weg, weil unsere Existenz hier ist. Das ist für uns das allerletzte Szenario», sagt Georgin Bonifazi. Mit dem Berg hat man sich arrangiert – für den Moment.