- Der Mensch ist ein Kompromiss: Evolution zielt nicht auf Perfektion ab, sondern darauf, auf verschiedene Anforderungen optimal zu reagieren.
- Der Mensch verändert seine Umwelt und Lebensumstände im Eiltempo. Die Evolution des Körpers hinkt hinterher – mit Folgen wie Arthrose oder Krebs.
Die Evolution ist ein grosses Forschungsgebiet, eines, in dem sich Funde und Theorien wie in einem riesigen Puzzle ihren Platz suchen, ein Zusammenspiel aus zufälligen, spontanen Veränderungen und langfristigerer Selektion. Makellos ist das Ergebnis nicht, eher ein Kompromiss. «Sie streben evolutionstechnisch gesprochen auf ein Optimum, aber nicht auf Perfektion. Es ist immer ein Ausbalancieren verschiedener sich ständig ändernder Ansprüche. Denn wenn Sie etwas perfekt machen, wird etwas anderes weniger gut», sagt Frank Rühli, Direktor des Instituts für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich.
Gelungen ist in der Geschichte des Menschen Einiges. Zuerst vor über drei Millionen Jahren der aufrechte Gang, dann die immer bessere Feinmotorik der Hände, damit einhergehend der kulturelle Wandel, der wiederum körperliche Veränderungen zuliess: Menschen, die geschickt genug sind, sich Unterkünfte zu bauen und Kleidung herzustellen, brauchen keinen voll behaarten Körper mehr.
Stämme, die mit Jagd, Viehzucht, Ackerbau und Vorratshaltung gute Reserven auch für schlechte Zeiten bereithalten können, können grösser werden. Übernehmen Geräte und Maschinen mehr und mehr Aufgaben, braucht es den Neandertaler-Muskelprotz der Vorzeit nicht mehr, der 30 Prozent mehr Muskelmasse mit sich trug als der heutige Mensch. Also nimmt die Körpermasse ab, die Knochen werden dünner, der Körperbau graziler, das Gehirn grösser: Homo sapiens entsteht.
Willkommen in der Gegenwart
Der moderne Mensch lebt in einer besonderen Situation: «Wir haben einen schwachen Selektionsdruck, weil wir entsprechende Technologien haben, durch die – vereinfacht gesagt – heute viel mehr Menschen überleben und sich fortpflanzen können», sagt Frank Rühli.
Die Natur kann es sich derzeit erlauben, extrem auszuprobieren.
Das heisst: War dazumal ein kräftiger Körper die Voraussetzung fürs Überleben, hat die kulturelle Evolution die Menschheit so weit gebracht, dass ein perfektionierter Körper gar nicht mehr zwingend erforderlich ist. Denn je besser die Medizin in der Lage ist, Krankheiten zu therapieren oder Defizite auszugleichen, desto weniger Selektion findet statt. Selbst nicht ganz Gesunde können sich fortpflanzen und damit ihre körperlichen Schwächen weitergeben. «Dadurch erwarten wir biologisch eine grössere Bandbreite. Die Natur kann es sich derzeit erlauben, extrem auszuprobieren, weil auch solche Extreme heute noch überleben. Das wäre vielleicht mit hohem Selektionsdruck nicht der Fall», so Frank Rühli. Auch die sexuelle Selektion greift nicht mehr. Längst findet nicht mehr nur das Männchen ein Weibchen, das die buntesten Federn trägt.
Allenfalls ein Krönchen der Schöpfung
Der Mensch ist also zumindest körperlich gesehen alles andere als die Krone der Schöpfung. Zwar konnten die Affen in der intellektuellen Entwicklung mit dem Menschen nicht Schritt halten, als sich vor sechs Millionen Jahren ihre Wege evolutionsgeschichtlich trennten. In nur einem Prozent der Gene unterscheidet sich der Mensch vom Schimpansen. Doch deren Körper ist weniger anfällig, HIV können sie beispielsweise in sich tragen, ohne dass das ihr Immunsystem lahmlegt. Auch an Krebs erkranken Primaten deutlich seltener als Menschen.
Die Knochen wiederum, die sich eigens für den grazilen Homo sapiens verschlankten, ächzen nun unter dem zunehmenden Gewicht des Homo sapiens sapiens. In den vergangenen 4000 Jahren hat sich die Knochenstärke um 15 Prozent reduziert – für den gleichen Wert brauchte es davor fast zwei Millionen Jahre. Das war kein Problem für unsere schlanken Vorfahren, nur werden wir jetzt immer schwerer. Kein Wunder, dass Gelenksleiden wir Arthrose entstehen.
Leben in der Neuzeit mit dem Körper der Vergangenheit
Die Natur ist unerbittlich: Schmerzen allein sind kein Evolutionskriterium. Solange sich Menschen fortpflanzen, ist aus dem Blickwinkel der Natur alles in Ordnung. Andere Probleme entstehen, weil die körperliche Evolution der kulturellen hinterher hinkt: Steinzeitfrauen waren entweder schwanger oder stillten. Dadurch waren ihre Östrogenwerte niedrig. Heute ist das nicht mehr der Fall, Frauen sind zeitlebens einer viel grösseren Menge des Hormons ausgesetzt, was mit als ein Grund für die hohe Brustkrebsrate angesehen werden kann.
Einstweilen bleibt dem Menschen also nicht viel mehr, als abzunehmen und seinen Kopf einzusetzen, bis die Evolution ihm vielleicht zuarbeitet. Denn an anderer Stelle ist sie wesentlich aktiver: Manche Erreger mutieren von Jahr zu Jahr oder werden resistent gegen Antibiotika, andere nutzen die klimatischen Veränderungen und fühlen sich an neuen Orten wohl. Bevor wir also auf den Smartphone-Daumen hoffen, tun wir gut daran, Strategien gegen diese Gefahr zu erarbeiten.