«Tatort» Thurgau: Der südafrikanische Milliardär Johann Rupert fliegt in die Schweiz. Vor dem offiziellen Impfstart lässt er sich in Frauenfeld gegen das Coronavirus impfen. «Das ging nur, weil die Hirslanden-Gruppe exklusiv für die Impfungen im Kanton Thurgau zuständig ist», berichtet der «Tages-Anzeiger».
Pikant: Der 70-jährige Unternehmer ist über ein Firmengeflecht mitbeteiligt an der Hirslanden-Gruppe. Und, wie heute publik wurde: Thurgau ist das nationale Schlusslicht bei der Impfkampagne. Das «beschleunigte Verfahren» für den schwerreichen «Impftouristen» bekommt einen zusätzlichen Beigeschmack.
Doch der «Fall Rupert» steht nicht alleine da. Der US-Nachrichtensender CBS berichtete jüngst über Vorwürfe an ein Privatpflegeheim im Bundesstaat Florida. Dessen Verwaltungsräte sollen sich das begehrte Vakzin verabreichen haben lassen. In Österreich sorgen derweil Bürgermeister für Unmut, die sich bei der Impfkampagne vordrängeln.
Der Impfstoff ist ein Lichtblick im langen Corona-Winter, doch er ist ein rares Gut. Kein Wunder, erhitzt eine Vorzugsbehandlung der Reichen und Mächtigen die Gemüter. Es riecht nach «Geld regiert Welt». «Es riecht nicht nur so. Das ist so», sagt Ruth Baumann-Hölzle von der Stiftung Dialog Ethik.
Rupert habe sich dank seines Netzwerks und Reichtums Zugang zu Impfungen verschaffen können, so die Ethikerin. «Die Kernfrage ist: Soll man sich ein beschränktes, rationiertes Gut wie einen Impfstoff kaufen können? Gesundheit ist kein Handelsgut. Alle haben den gleichen Anspruch auf Behandlung und Betreuung.»
Die Covid-Krise zeigt in kaum je dagewesener Deutlichkeit die sozialen Ungerechtigkeiten auf.
Für Baumann-Hölzle ist deshalb klar: Es braucht staatliche Mechanismen für eine faire Verteilung. Diesem Gedanken will der Bund mit seiner Impfstrategie Rechnung tragen; Nachrichten wie aus dem Thurgau wirken dabei wenig vertrauensbildend.
Globales Gerechtigkeitsproblem
Privilegierten Zugang zum Impfstoff hat auch die Landesregierung. Mehrere Bundesräte liessen sich bereits impfen. «Hier ist die Frage, inwiefern Personen systemrelevant sind. Und der Bundesrat ist ganz sicher systemrelevant – genauso wie das Gesundheitspersonal», so die Ethikerin. «Wenn sie ausfallen, verschärfen sich die Probleme.»
Doch auch die Gesamtbevölkerung in reichen Ländern wird gegenüber ärmeren bevorzugt. Bis im Sommer sollen sich, so der Fahrplan des Bundes, alle Menschen in der Schweiz impfen lassen können, die das wollen. In vielen afrikanischen Ländern wird man froh sein, wenn die Impfkampagne bis dahin überhaupt starten kann.
Ein massives Problem, findet Baumann-Hölzle: «Es gibt ein weltweites Zugangs- und Gerechtigkeitsproblem.» Empörte Stimmen darüber sind in reichen Industrienationen nur vereinzelt zu vernehmen. Vielmehr herrscht ein nationaler Impfwettbewerb.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat versucht, einen Mechanismus für die globale Verteilung der Impfstoffe zu lancieren. Reiche Länder wie die Schweiz hätten dabei zwar mitgemacht, so die Ethikerin – sich aber auch frühzeitig Impfdosen bei den Pharmakonzernen gesichert.
Ihr ernüchterndes Fazit: «Die Covid-Krise zeigt in kaum je dagewesener Deutlichkeit die sozialen Ungerechtigkeiten auf.» Ein blosses Feigenblatt seien Versuche, einen fairen Verteilschlüssel zu etablieren, trotzdem nicht: Ideale preiszugeben, weil sie sich in der Realität nicht erfüllen lassen, sei ein fatalistischer Gedanke.