Ich habe in der katholischen Kirche grosse Verantwortung getragen. Umso grösser ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind.
Mit diesen Worten drückt der emeritierte Papst Benedikt XVI. in einer Stellungnahme, die der Vatikan heute veröffentlichte, seine «tiefe Scham» und seinen «grossen Schmerz aus». «Ich bringe meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck», heisst es in dem Schreiben weiter.
Der frühere Kardinal Joseph Ratzinger steht seit Wochen in der Kritik. Ein Gutachten einer Anwaltskanzlei wirft ihm vor, er habe in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Priester, die Kinder missbraucht hatten, wieder in der Seelsorge eingesetzt. Der ehemalige Papst weist nun – neben seiner Entschuldigung – jedes Fehlverhalten konsequent von sich.
Laut dem am 20. Januar vorgestellten Gutachten wurden mindestens 497 Kinder und Jugendliche zwischen 1945 und 2019 in dem katholischen Bistum von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern der Kirche sexuell missbraucht.
Reicht Benedikts Stellungnahme als Genugtuung für die Missbrauchsopfer? «Nein», sagt der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller: «Sie werden das wieder als Schlag ins Gesicht erleben. Benedikt bringt zwar seine Scham und sein Befremden über diese Taten zum Ausdruck. Er erweckt aber den Eindruck, als habe er selbst damit nichts zu tun.»
Fehlende Selbstkritik
Der Professor an der Universität Münster beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Missbrauch und Reformbedarf in der katholischen Kirche. Schüller fehlt im Schreiben des Papst Emeritus die Selbstkritik: «Die Worte ‹ich übernehme Verantwortung, ich habe Fehler gemacht› kommen im System Joseph Ratzinger nicht vor. Er ist unfehlbar und weist die Fehler Dritten zu, als hätte er als damaliger Erzbischof nichts mit dem Erzbistum zu tun.»
Stattdessen unterwerfe sich Benedikt, wie es Schüller ausdrückt, «dem Richterstuhl Gottes». Dies wird auch in seinem heutigen Brief deutlich. So bittet Ratzinger die Gläubigen, für ihn zu beten:
Immer mehr verstehe ich die Abscheu und die Angst, die Christus auf dem Ölberg überfielen, als er all das Schreckliche sah, das er nun von innen her überwinden sollte. Dass gleichzeitig die Jünger schlafen konnten, ist leider die Situation, die auch heute wieder von neuem besteht und in der auch ich mich angesprochen fühle.
«Das ist eine Spiritualisierung von Verantwortung, während die Betroffenen mit der verletzten Seele und dem geschundenen Leid weiterleben müssen», kritisiert der Theologe.
«Formale Entschuldigungsmechanismen»
Für Schüller ist denn auch unstrittig, dass der damalige Kardinal Ratzinger persönlich Verantwortung für die Vorkommnisse während seiner Amtszeit trägt. «Ich habe sechzehn Jahre das Büro eines Bischofs geleitet und weiss ganz genau, wie die Abläufe sind. Es ist wenig überzeugend, dass der Kardinal und Erzbischof Joseph Ratzinger von diesen komplexen Vorgängen nie etwas mitbekommen haben will.»
Für Schüller ist es unglaubwürdig, dass ein wegen sexuellen Missbrauchs vorbestrafter Priester das Bistum wechseln konnte, ohne dass der damalige Erzbischof Ratzinger über dessen Vergangenheit im Bilde war: «Er redet sich mit formalen Entschuldigungsmechanismen raus. Aber er trägt die volle Verantwortung.»
Allerdings: Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche hat erst unter Benedikt XVI. ihren Anfang genommen. Das anerkennt auch der deutsche Kirchenrechtler. «Diese Differenzierung ist wichtig. Meine Kritik bezieht sich ausdrücklich auf die fünf Jahre, in denen er Erzbischof von München Freising war.»