- Es werden immer mehr Statine verschrieben. Deutlich profitieren aber nur Patienten mit bereits vorhandenen Herz-Kreislauferkrankungen, einem hohen Risiko für solche Leiden sowie Diabetiker oder Menschen mit genetisch bedingtem erhöhten Cholesterinspiegel.
- Ob bereits Menschen mit leichtem Risiko für Herzinfarkt oder oder andere Herz-Kreislaufleiden Statine schlucken sollten, ist sehr umstritten.
Statine sind ein Segen. Die Cholesterinsenker können nach Herzinfarkten oder Schlaganfällen vor erneuten Vorfällen schützen. Diese Patientengruppe, 190'000 Menschen in der Schweiz, profitiert unbestritten von der Einnahme der Statine. 570'000 Menschen, dreimal so viele, schlucken die Tabletten dagegen vorbeugend – ein Teil von ihnen, ohne an Diabetes zu leiden oder ein besonders hohes Risiko für Herzkreislauf-Erkrankungen zu haben.
«In unserer Erfahrung wird die Statinverschreibung immer grosszügiger. Das hat fast zu einer Massenverschreibung vor allem bei älteren Leuten geführt», beobachtet auch Pascal Meier, Kardiologe in Genf und London und Chefredaktor der Fachzeitschrift BMJ Open Heart.
Das ist zunächst einmal ein riesiges Geschäft für die Pharmabranche: Innerhalb von neun Jahren hat sich der Absatz auf 2.25 Millionen Packungen pro Jahr in der Schweiz fast verdoppelt. Cholesterinsenker rangieren damit neben Paracetamol, Ibuprofen oder Betablockern unter den Top 10 der meistbezogenen Medikamente.
Mit Risiken und Nebenwirkungen
Am lukrativsten weil am grössten ist die Patientengruppe mit leichtem Herz-Kreislaufrisiko. Ihre Cholesterinwerte sind kaum der Rede wert, aber in Kombination mit anderen Risikofaktoren – sie sind vielleicht etwas zu schwer oder rauchen – schlagen sie zu Buche. Doch diese Gruppe profitiert bestenfalls marginal von Statinen, bemängeln Kritiker. Obwohl der Nutzen nicht überzeugt, würden Nebenwirkungen billigend in Kauf genommen.
Lebensbedrohlich sind die häufigsten Begleiterscheinungen nicht, aber sie können die Lebensqualität deutlich einschränken. Zehn Prozent der Patienten klagen beispielsweise über Muskelschmerzen und -erkrankungen, Krämpfe oder Schwächegefühle, Schlafstörungen, brennende Gliedmassen oder Juckreiz und trockene Haut im Zusammenhang mit Statinen. Setzen sie die Medikamente ab, lassen die Beschwerden wieder nach.
Dem widerspricht eine aktuelle Studie mit 10'000 Probanden – finanziert vom Pharmaunternehmen Pfizer: Solange die Studienteilnehmer nicht wussten, dass sie Statine einnahmen, hatten sie nicht mehr Nebenwirkungen als Probanden, die nur Placebos erhielten. Sobald sie aber informiert worden waren, dass sie Statine schluckten, nahm die Zahl der gemeldeten Nebenwirkungen sprunghaft zu.
Lebensstil ändern ist unbequem – aber effektiv
Seien die Beschwerden nun echt oder eingebildet: Klar ist, dass die Patientengruppe mit leichtem Risiko mit einer Anpassung des Lebensstils ihre Werte meist bereits ausreichend kontrollieren könnte.
Ein Rauchstopp kann die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislaufleiden beispielsweise um 50 Prozent reduzieren. Eine ausgewogenere Ernährung mit viel ungesättigten Fettsäuren tut ihr Übriges. Und dreimal 20 Minuten Sport pro Woche soll das «schlechte» LDL-Cholesterin bereits um bis zu zehn Prozent senken können, während das «gute» HDL sogar ansteigt.
Ein gesunder Lebensstil ist nicht nur nebenwirkungsfrei und kostengünstig, sondern hat auch einen psychologischen Pluspunkt: Hier werden Patienten nicht kränker gemacht, als sie sind. Das kann passieren. Die meisten Ärzte ermitteln das individuelle Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Herz-Kreislauf-Probleme zu bekommen, mittlerweile über spezielle Rechner. Dieser hat den grossen Vorteil, dass neben den Cholesterinwerten auch Alter (Ältere sind gefährdeter), Geschlecht (Männer haben ein höheres Risiko), Gewicht und Blutdruck, sowie das Rauchen und Vorerkrankungen wie Diabetes mit einfliessen.
Gesunde werden krank gemacht
Kommen einige «ungünstige» Faktoren wie ein höheres Alter oder männliches Geschlecht zusammen und interpretieren Ärzte die Ergebnisse sehr streng, werden Patienten zu Risikopatienten deklariert und sollen Statine schlucken, obwohl der Effekt minimal ist. Die Bereitschaft dazu ist gering, der Ruf der eigentlich hervorragenden und bewährten Lipidsenker leidet: Nach zwei Jahren nimmt nur ein Viertel das Medikament noch zur Prävention ein.
In vielen Fällen wäre diesen Patienten mit einer Anpassung des Lebensstils genauso geholfen. Ob deren Bereitschaft dazu von ebenso kurzer Dauer ist, sei dahingestellt. Immerhin: Ohne Risiken und Nebenwirkungen ist er.