Am 18. Mai 1920 liegt die Mutter von Ernst Baumgartner in den Wehen. Es sind harte Zeiten, damals. Der Fortschrittsglaube ist gross. Die Wunden des Ersten Weltkriegs sind noch nicht verheilt. Ernst Baumgartner kommt zur Welt. Und gleichzeitig steigt das Wasser der Aare bei Wohlen über das Ufer.
Rette sich, wer kann
Während die Mutter gebärt, rennt das Dorf zum Fluss. Auch die Hebamme ist plötzlich weg. Denn am Fluss versuchen sich Tiere vor dem Wasser zu retten. Mäuse, Marder, Füchse – alle bringen sich in Sicherheit. Eine Invasion sei das gewesen, erzählte Ernst Baumgartner vor einigen Jahren in einer Radiosendung, mittlerweile ist er verstorben.
Der Fluss trat allerdings nicht über die Ufer, weil die Staumauer fertig gebaut war. Nein, ein Hochwasser war der Grund. Das Wasser konnte wegen der fast fertigen Staumauer nicht richtig abfliessen. Und so entstand aus dem Fluss plötzlich ein See, ein paar Wochen zu früh.
Zum zweiten Mal gestaut wurde er dann im Juli 1920. Am 23. August 1920, vor hundert Jahren also, war der See voll, die Stromproduktion begann. Seither gibt es den Wohlensee endgültig.
Ein Kraftwerk im Fluss
Das Projekt war waghalsig: Hier entstand das modernste Kraftwerk Europas. Es sollte 24 Stunden am Tag Strom produzieren, 7 Tage die Woche. Strom, den man damals dringend benötigte.
«Vor dem Ersten Weltkrieg wurden erste Kraftwerke gebaut, eigentlich war bereits ausgesorgt», erklärt Thomas Schneiter, Leiter bauliche Instandhaltung bei der BKW. Doch dann kam der Krieg. Kohle wurde teuer, Wasserkraft schien plötzlich sehr attraktiv. Die Bernischen Kraftwerke BKW nutzten das Potenzial, das ihnen zu Füssen lag: die Aare, die unermüdlich Wasser von Bern nach Biel trägt.
1917 bekam die BKW vom Kanton Bern die Konzession, ein Wasserkraftwerk zu errichten. Ein Bauer weigerte sich, sein Land zu verkaufen, doch das Gericht entschied gegen ihn.
Sofort begann man mit dem Bau: «Es pressierte», so Thomas Schneiter. 1000 Männer – die Hälfte aus der Region, die andere Hälfte aus dem Ausland – waren am Bau in Mühleberg beteiligt.
Sie leisteten Pionierarbeit, nicht nur was das Bauwerk selbst betrifft. Auch beim Bauen selbst: Mit elektrischen Baggern wurde das Material, das mittels einer neuartigen Trolleybuslinie nach Mühleberg transportiert wurde, verarbeitet. Langsam entstand mitten im Fluss eine Mauer.
Nach nur drei Jahren war es dann so weit: Die Mauer wurde verschlossen, der Fluss gestaut.
Vom 23. August 1920 an produzierten hier sechs Maschinen rund um die Uhr Strom. Auch heute noch. Eine zusätzliche Maschine wurde in den 60er-Jahren installiert, heute beträgt die Strommenge rund 160 Millionen Kilowattstunden. Das reicht für etwa 30'000 Haushalte. Zum Vergleich: Bei der grössten Staumauer der Schweiz, Grande Dixence in den Walliser Alpen, wird etwa die zwölffache Menge produziert.
Der See stinkt
Zurück zu Ernst Baumgartner, dem Mann, der kurz vor der Stauung des Wohlensees zur Welt kam. Sein Sohn, Niklaus Baumgartner, erzählt jetzt die Geschichten seines verstorbenen Vaters weiter. Die Bauern hätten sich beeilen müssen am Tag des Hochwassers, im Mai 1920. Sie waren am Gras mähen. Eine Warnung, durch eine Glocke beispielsweise, gab es nicht. Das Wasser kam einfach. Alles, was im Weg war, war weg: Tiere retteten sich – Wälder und Felder und sogar eine Käserei wurden versenkt.
Im Sommer, nach der endgültigen Stauung, pendelte sich der See nach und nach ein. Die Kinder spielten, es wurde mit Booten darauf gefahren, einige wagten sogar einen Schwumm. Was alle gemeinsam hatten: Sie rümpften die Nase. Es gab damals nämlich kein kluges Abwassersystem beim See, das heisst, das Abwasser lief direkt hinein. Nicht nur das, sondern auch die Abfälle von Schlachthöfen landeten im See. Man stelle sich das vor: Die Kinder spielten und vorbei trieb eine halbe Sau.
Der See wird endlich schön
Mit der Zeit verschwand der Gestank und die Leute kamen in Scharen. Der Wohlensee gilt als schönes Ausflugsziel in unmittelbarer der Nähe der Stadt Bern. Der etwa zwölf Kilometer lange See hat zwar keinen durchgehenden Uferweg, aber dennoch viele Möglichkeiten zu spazieren, zu biken oder auch zu schwimmen.
Den Menschen, aber auch den Tieren und Pflanzen ist es letztlich egal, dass der See künstlich entstanden ist. Was zählt, ist das hier und jetzt. Der Wohlensee ist mittlerweile ein gut geschütztes Naturschutzgebiet. Hier hat es spezielle Libellen, viele Zugvögel, Biber und seltene Pflanzen.
Dieser See ist ein Naturparadies.
Der See sei einzigartig, sagt Lukas Schär vom Schutzverband Wohlensee. «Innerhalb der letzten 100 Jahren ist direkt vor den Toren Berns ein Naturparadies entstanden.» Doch natürlich hat die Sache einen Haken:
Je mehr Menschen dieses Paradies anschauen wollen, desto mehr gerät dieses unter Druck. Der Schutzverein versucht, beiden Bedürfnissen gerecht zu werden: Jenen des Wohlensees und jenen der erholungswilligen Menschen.
Mit Plakaten will der Schutzverband Stand-up-Paddler von den Schilfgürteln fernhalten. Damit die Tiere in Ruhe leben können. Zudem ist die Seepolizei oft vor Ort. Aber Bussen würden selten verteilt, sagt Urs Käser von der Seepolizei: «Wir können nicht überall sein.»
Gegen die Menschenmassen möchte auch der Kanton Bern etwas unternehmen. «Wir überlegen uns Sperrzonen rund um den Wohlensee», so Christian Heeb vom Jagdinspektorat des Kantons. In diesen Zonen wären Menschen tabu. Doch noch ist das nur eine Idee.
Wird der See wieder zum Fluss?
Seit 100 Jahren gibt es den Wohlensee. Erst vor kurzem hat die BKW wieder eine Konzession erhalten, für die nächsten 80 Jahre Strom zu produzieren. Das Wasser fliesst, die Turbinen machen daraus Elektrizität. «Es wäre schade, dieses Potential nicht zu nutzen», so Andreas Stettler, der Leiter Steuerung und Strategie Produktion bei der BKW. «Dieses Kraftwerk liefert uns einen Grundbedarf an Strom.» Er sei überzeugt, dass man dieses noch lange nutzen werde.
Die Energiestrategie 2050 sehe zudem vor, dass man die Stromproduktion aus Wasserkraft noch steigere. Deshalb werde man an Mühleberg festhalten.
Damit das klappt, muss der See aber regelmässig geputzt werden, er verlandet nach und nach. Die Aare bringt Schlamm und kleinste Teilchen Richtung Staumauer. Da sie durch den See verlangsamt wird, setzen sich die Teilchen ab und der Grund wird stetig aufgefüllt. «Irgendwann bilden sich mehr und mehr Inseln», so Thomas Schneiter von der BKW.
Per Konzession des Kantons ist die BKW verpflichtet, einen Weg für das Wasser freizuhalten. Das Seegras wird regelmässig geschnitten. Doch im Rest des Sees schreitet die Verlandung unaufhörlich voran.
Was vor 100 Jahren von Menschenhand gebaut wurde, wird sicher noch 100 Jahre Bestand haben. Aber: «In etwa zweihundert Jahren sieht es hier ganz anders aus», so Thomas Schneiter. Auf den Inseln werden Bäume wachsen. Der Fluss wird sich neue Wege suchen.