Hunderte Drogentote, abertausende Süchtige, Millionen Spritzen und ein unvorstellbares Elend: Der Zürcher Platzspitz beim Hauptbahnhof wuchs ab Mitte der 1980er-Jahre zur grössten Drogenszene Europas. Süchtige aus der Schweiz und dem Ausland trafen sich beim sogenannten «Needle Park» und konsumierten Heroin.
Todkranke Menschen wurden durch Zürich getrieben
Am 5. Februar 1992 räumten die Behörden den Platzspitz, tragische Szenen spielten sich ab: «Die Polizei hat todkranke Menschen wirklich mit Tränengas und Schlagstöcken durch die Strassen von Zürich getrieben», erinnert sich André Seidenberg. Er behandelte damals als junger Notfall-Arzt Heroinsüchtige auf dem Platzspitz und setzte sich gegen den Willen der Behörden vehement für die Abgabe sauberer Spritzen ein.
Durch die Räumung verlagerte sich die offene Drogenszene aber lediglich zum stillgelegten Bahnhof Letten. Sie wurde erst durch ein Umdenken in der Drogenpolitik und der Schliessung des Areals 1995 aufgelöst. Entscheidend war, dass Süchtige in sogenannten Fixerstübli legal Heroin oder den Ersatzstoff Methadon beziehen konnten. Eine solche Drogenabgabestelle ist die Arud, welche bereits zu Platzspitz-Zeiten entstanden ist.
18'000 Menschen konsumieren Heroin
Heute gelte die Heroin-Epidemie von damals offiziell als beendet, sagt Thilo Beck, Chefarzt Psychiatrie des Zentrums für Suchtmedizin Arud. Schweizweit konsumierten aktuell noch rund 18'000 Menschen regelmässig Heroin. «Der grösste Teil der Personen bei uns in Behandlung sind Abhängige aus der Zeit des Platzspitzes in den 1990er-Jahren.» Das Durchschnittsalter liege bei 50 Jahren. «Neubeginner haben wir praktisch keine oder nur ganz wenige», so Beck.
Dennoch gibt es junge Menschen, die der Droge verfallen. Angefangen habe es als 15-Jähriger mit Medikamentenmissbrauch, erzählt ein Betroffener. Der Mann ist heute Mitte zwanzig, wohnt und arbeitet in der Stadt Zürich. Weil nur seine Familie und enge Freunde von der Sucht wissen, möchte er anonym bleiben. «Die Substanzen habe ich hauptsächlich aus dem Darknet oder von Kollegen bezogen. So bin ich ins Heroin gerutscht.» Als 16-Jähriger konsumiert er die Droge erstmals, bis heute ist er davon abhängig.
Heute habe ich keinen Kontakt mehr mit Strassenheroin.
Seit einigen Jahren nimmt der Zürcher am Drogenprogramm der Arud teil. Hier bezieht er sein Heroin. Er nimmt es alle zwei bis drei Stunden in Tablettenform ein. «So komme ich ohne Probleme durch den Alltag», schildert der junge Mann. Dank dieses Angebots gehe es ihm gut. Die Kosten für das Heroin übernimmt die Krankenkasse. Der Süchtige hat keinen Kontakt mehr zum Strassenheroin und hat einen geregelten Alltag ohne Beschaffungsstress.
Dass junge Menschen über Medikamentenmissbrauch in die Heroinabhängigkeit geraten, macht Thilo Beck Sorgen – auch wenn es Ausnahmen sind. «Im Moment sind es Einzelfälle, die wir aber immer wieder sehen», sagt der Chefarzt Psychiatrie der Arud. «Wir fragen uns, ob es zu einem Trend wird, dass Jugendliche mit solchen Substanzen experimentieren.»
Der junge Betroffene aus dem Drogenprogramm wünscht sich heute, sein Leben hätte eine andere Wende genommen. «Ich bereue es, weil ich von der Abhängigkeit jetzt nur schwer wegkomme», sagt er, atmet tief ein und doppelt nach «auf jeden Fall bereue ich es». Dankbar sei er dafür, dass er in der Schweiz aufgrund der kontrollierten Abgabe den Schaden so stark wie möglich begrenzen könne. Aber ja, irgendwann wolle er einen Entzug machen und ganz vom Heroin loskommen.