Auf den ersten Blick ist es nicht der Ranglisten-Platz, den man als Land anstrebt: ganz vorne, wenn’s um Gefängnisflucht geht. In keinem Land auf dem europäischen Kontinent flüchten mehr Gefängnis-Insassen als in der Schweiz. Dies zeigt der Space-Report, den der Lausanner Kriminologie-Professor Marcelo F. Aebi für den Europarat erstellt hat. Verglichen werden darin die Gefängnissysteme von 47 Ländern Europas.
Schweiz: 255 Häftlinge, Spanien: 2 Häftlinge
Konkret: Hochgerechnet auf 10'000 Häftlinge flüchteten in der Schweiz im Jahr 2017 rund 255 Häftlinge. In anderen Ländern sind es viel weniger: In Frankreich flüchteten rund 88 pro 10'000 Gefängnisinsassen. In Deutschland 61, in Österreich 30 und in Spanien gerade mal 2.
Ähnlich oft wie in der Schweiz türmten Häftlinge in den skandinavischen Ländern: In Finnland waren es im Jahr 2017 hochgerechnet 252, in Schweden 238.
«Freiheit kann man nicht im Gefängnis lernen»
Die hohe Zahl der Gefängnisfluchten hängt gemäss Studienautor Aebi damit zusammen, dass die Schweiz – wie auch die skandinavischen Länder – stark auf den offenen und halboffenen Vollzug setzt, um die Leute am Ende der Haftzeit an die Freiheit zu gewöhnen. «Freiheit kann man nicht im Gefängnis lernen», sagt Aebi.
«Was aussieht wie ‹bad news›, sind in Wahrheit ‹good news›», betont Aebi. Denn: Länder, die stark auf offenen Vollzug Reintegration setzen, hätten in der Regel die niedrigsten Populationen an Gefängnisinsassen. Auch die Rückfallraten seien in Ländern mit offenen Strafvollzug-System geringer, die Resozialisierung gelinge besser.
«Länder, die ein sehr restriktives Gefängnissystem ohne offenen Vollzug kennen, haben langfristig im Schnitt eine Rückfallrate von rund 50 Prozent. Das heisst: Jeder zweite Häftling landet ein paar Jahre nach der Freilassung erneut im Gefängnis. In Ländern mit einem offenen Strafvollzug beträgt die Rückfallrate bei Erwachsenen – gemessen an erneuten Verurteilungen – gemäss Studien bei 38 Prozent», sagt Aebi.
Die Strafvollzugsbehörden in der Schweiz schauen heutzutage sehr genau, wen sie in den offenen Vollzug lassen.
Dass es auf dem Weg zu einer tieferen Rückfallquote gelegentlich zu der einen oder anderen Flucht eines Häftlings komme, sei der Preis, den man bezahle, um ein menschlicheres Gefängnissystem zu haben. «Die Strafvollzugsbehörden in der Schweiz schauen heutzutage sehr genau, wen sie in den offenen Vollzug lassen.»
Klassische Gefängnis-Ausbrüche rückläufig
Schaut man die Fluchtzahlen aus Schweizer Gefängnissen genau an, so stellt man fest, dass die klassischen Gefängnisausbrüche – also jene aus geschlossenen Haftanstalten – in der Schweiz stark rückläufig sind.
2010 brachen 24 Häftlinge aus geschlossenen Anstalten aus, im letzten Jahr schweizweit nur noch 6. Die Flucht aus dem offenen Vollzug jedoch schwankt von Jahr zu Jahr stark. 2012 flüchteten beispielsweise 250 Häftlinge, 2017 waren es 170.