Heute vor 75 Jahren wurde in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet. Die UNO war geboren; nach dem Modell, das die USA, die Sowjetunion und Grossbritannien entworfen hatten. Mit der Kandidatur für den Sicherheitsrat habe die Schweiz ein wichtiges Projekt, sagt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga.
SRF News: In der UNO-Charta steht das Wort «Friede» an 52 Stellen. Dennoch gab es in letzten 75 Jahren viele Kriege. Ist das Jubiläum trotzdem ein Grund zum Feiern?
Simonetta Sommaruga: Es ist ein Grund, sich zu erinnern, weshalb es die UNO gibt und wie wichtig sie nach wie vor ist. Selbst wenn sie nicht erreichen konnte, dass es keine Kriege mehr gibt. Immerhin hat es keinen weiteren Weltkrieg gegeben. Die UNO ist die einzige Plattform überhaupt, auf der sich alle Länder austauschen können. Sie hat an vielen Orten friedensfördernd gewirkt.
Die UNO und die WHO gerieten jüngst unter Beschuss, gerade wegen Corona. Hatten Sie auch das Gefühl, es fehle an Führung?
Führung kann man nur übernehmen, wenn die Staaten zu gemeinsamen Lösungen bereit sind. Die UNO hat Reformbedarf. Es ist nicht mehr die gleiche Welt wie vor 75 Jahren. Wir leben vielleicht sogar in einer Welt, wo Einigungen zwischen Grossmächten besonders schwierig zu finden sind. Doch was wäre die Welt ohne UNO? Sie ist zwar weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber ohne die UNO wäre die Welt noch viel schlechter dran.
Die UNO ist zwar weit entfernt davon, perfekt zu sein. Aber was wäre die Welt ohne die UNO?
Wo müsste am schnellsten reformiert werden?
Die Schweiz hat immer wieder Reformen eingefordert. Es geht um mehr Effizienz. Es geht aber auch um eine stabile Finanzierung, damit die UNO nicht zum Spielball von momentanen Konflikten zwischen einzelnen Mächten wird. Die Schweiz kann Anregungen geben. Denn wir sind ein Staat, der zeigt, wie man mit verschiedenen Kulturen, Sprachen und unterschiedlichsten Wahrnehmungen Lösungen finden kann.
Historische Reden vor der UNO
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Bild 1 von 16. 10. Januar 1946. Die erste UNO-Generalversammlung findet in der Central Hall des Londoner Westminsters statt. Dabei konstituierte sich der UNO-Wirtschafts- und Sozialrat. 51 Nationen nahmen daran teil. Unterzeichnet wurde die Charta der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco von 50 der 51 Gründungsmitgliedern. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 16. 12. Oktober 1960. Während der Rede eines philippinischen Delegierten sah der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow rot und beschimpfte den Diplomaten als «Speichellecker des amerikanischen Imperialismus». Damit nicht genug, soll Chruschtschow zum Rednerpult gestürmt sein und mit seinem Schuh darauf eingeschlagen haben. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 16. 11. Dezember 1964. Ernesto Guevara hielt 1964 als Kubas Industrieminister eine vielbeachtete Rede vor den Vereinten Nationen. Er kritisierte aus seiner Sicht die damalige Aussenpolitik der USA scharf und äusserte sich zur Frage atomarer Bewaffnung der NATO-Länder und zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 16. 4. Oktober 1965. Als Papst Paul VI. vor den Vertretern der Staatengemeinschaft sprach, feierte ihn die Weltgemeinschaft. Von einer historischen Ansprache war die Rede. «Nie mehr Krieg! Nie mehr! Es ist der Friede, der Friede, der das Geschick der Völker und der ganzen Menschheit leiten muss!» Doch positives Echo hin oder her, die Papst-Worte verhallten ungehört. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 16. 13. November 1974. Jassir Arafat war der erste Redner vor der UNO-Generalversammlung, der nicht als Staats- oder Regierungsvertreter sprach. Schon vor seiner Ansprache sorgte der Palästinenserführer für erhitzte Gemüter. Schuld daran sein Outfit – und damit war für einmal nicht sein Palästinensertuch gemeint. Vielmehr trug Arafat auch ein Pistolenhalfter. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 16. 7. Dezember 1988. Michail Gorbatschow verkündete 1988, dass die Sowjetunion einseitig und ohne vertragliche Verpflichtung im grossen Stil abrüsten werde. Um eine halbe Million Soldaten, tausende Panzer und Artilleriesysteme sowie hunderte Kampfflugzeuge werde die Rote Armee reduziert. Ein Paukenschlag zur damaligen Zeit. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 16. 13. September 2002. Die Schweiz hatte sich lange geziert, Mitglied der Vereinten Nationen zu werden. 2002 aber war es dann so weit. Die erste Rede für das neue UNO-Mitglied hielt Aussenminister Joseph Deiss. Darin legte dieser vor allem auf die Feststellung wert, dass die Neutralität kein Hindernis für eine konstruktive Zusammenarbeit mit der UNO darstelle. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 16. 6. Februar 2003. Das ist der «Schandfleck meiner Karriere», sollte Colin Powell später sagen. In einer Präsentation vor dem Sicherheitsrat hatte der US-Aussenminister Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen vorgelegt. Damit sollte die Invasion gerechtfertigt werden. Aber weder fahrbare Labore noch Belege für die Uran-Anreicherung wurden später gefunden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 16. 20. September 2006. Unverblümte Attacke: Venezuelas inzwischen verstorbener Präsident Hugo Chavez stieg 2006 auf die Bühne und bemerkte: «Es riecht immer noch nach Schwefel». Chavez deutete auf das Pult, von dem George W. Bush 24 Stunden zuvor seine Rede gehalten hatte. «Gestern war der Teufel hier, genau hier», sagte Chavez und bekreuzigte sich dabei. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 16. 22. September 2009. 15 Minuten sollten es werden – am Ende waren es 90. Aber nicht nur damit sorgte Muammar al-Gaddafi vor der Generalversammlung für einen historischen Moment. Weil er ohne Manuskript redete, improvisierte und zum Teil abrupt das Thema wechselte, soll er sogar einen Dolmetscher an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht haben. Bildquelle: Keystone.
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Bild 11 von 16. 22. September 2009. Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hetzte gegen Israel und präsentierte Verschwörungstheorien zu den Anschlägen vom 11. September. Den Westen und Amerika brandmarkte er als Verantwortliche für Weltkriege, Massenmord und Vertreibung. Die Adressaten seiner Rede verfehlte Ahmadinedschad. Sie hatten bereits zuvor demonstrativ den Saal verlassen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 12 von 16. 27. September 2012. Um vor dem iranischen Atomprogramm zu warnen, präsentierte Israels Premier Benjamin Netanjahu ein Plakat mit einer Comic-Bombe. Während seiner Rede zückte er schliesslich einen roten Filzstift und markierte eine rote Linie, die aus Sicht Israels nicht überschritten werden dürfe. Nur so könne der Iran vom Bau einer Atombombe abgehalten werden. Bildquelle: Reuters.
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Bild 13 von 16. 12. Juli 2013. Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai appellierte in ihrer Rede an die Staaten, Schulbildung für alle Kinder sicherzustellen. «Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern», betonte Malala in einer leidenschaftlichen Rede. Diese Ansprache war ihr erster grosser Auftritt, nachdem Islamisten versucht hatten, sie zu töten. Bildquelle: Reuters.
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Bild 14 von 16. 24. September 2019. Ihre Wutrede hielt Klimaaktivistin Greta Thunberg am UNO-Klimagipfel. Die 16-Jährige klagte, dass die Politiker die Probleme der Welt nicht verstehen. «Ihr lasst uns im Stich.» Neben den Klimaproblemen machte sie darauf aufmerksam, dass das immer anhaltende wirtschaftliche Wachstum ein Märchen sei. Thunberg war für die Rede nach New York gesegelt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 15 von 16. 24. September 2019. Seine Rede vor der UNO hat US-Präsident Donald Trump dazu genutzt, um die vertretenen Staaten dazu aufzurufen, gegen den Iran Stellung zu beziehen. «Keine verantwortungsbewusste Regierung sollte die Blutrünstigkeit des Iran fördern», betonte Trump. Die Fronten zwischen den Staaten sind verhärtet, die USA drohen mit weiteren Sanktionen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 16 von 16. 5. Februar 2020. Ende 2019 sah UNO-Generalsekretär António Guterres noch Hoffnung für die Welt. Anfang 2020 holte er dann zum Rundumschlag aus. «Ich habe kürzlich über den Wind der Hoffnung geredet, aber heute fegt der Wind des Wahnsinns über die Welt», sagte Guterres. Vor allem über den Bürgerkrieg in Libyen sei er zutiefst frustriert. Bildquelle: Keystone.
Die Schweiz ist seit 2002 Mitglied der UNO. Im Schweizer Alltag ist sie kaum ein Thema. Ist das gut oder schlecht?
Es ist heute unumstritten, dass die UNO-Mitgliedschaft eine gute Sache ist. Im Fokus sind vermehrt einzelne Unterorganisationen wie etwa die WHO in der Corona-Pandemie. Die Schweiz hat ein grosses Projekt als Kandidatin für den UNO-Sicherheitsrat für 2023/24. Wir trauen uns zu, im UNO-Sicherheitsrat eine Rolle spielen zu können.
Wir trauen uns zu, im UNO-Sicherheitsrat eine Rolle spielen zu können.
Kritiker der Kandidatur verweisen auf die Schweizer Neutralitätspolitik. Käme die Schweiz nicht in Teufels Küche?
Das wurde abgeklärt und auch im Parlament mehrfach diskutiert. Das Parlament unterstützt die Kandidatur. Die UNO-Charta-Ziele Frieden und Sicherheit entsprechen dem, was in der Bundesverfassung steht. Im UNO-Sicherheitsrat entscheiden wir natürlich mit, können aber auch Einfluss nehmen. Als Bundespräsidentin habe ich bei vielen internationalen Kontakten immer wieder gemerkt, dass der Beitrag der Schweiz zu friedensfördernden Massnahmen weltweit geschätzt wird.
Der Beitrag der Schweiz zu friedensfördernden Massnahmen wird weltweit geschätzt.
Aber muss die Schweiz nicht Position beziehen?
Das stimmt. Aber Neutralität heisst ja nicht per se, dass man keine Position bezieht. Aber man ist zum Beispiel bereit, verschiedene Aspekte miteinzubeziehen und als Brückenbauerin zu vermitteln. Zudem muss die Schweiz nicht bei allen Aktionen mitmachen. Österreich und Schweden konnten eine gute Rolle spielen und ihre Neutralität behalten. Ich habe also keine Sorge, denn die Schweiz versteht ihre Rolle auch immer wieder darin, zu vermitteln. Ich will das nicht überschätzen, aber es ist das, was die Schweiz glaubwürdig macht.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.