An diesem Abstimmungssonntag läuteten in vielen Bündner Gemeinden die Kirchenglocken. Mit 91,6 Prozent Ja-Stimmen hatten die Schweizer Männer das Rätoromanische zur vierten Landessprache erklärt. Ein überwältigendes Resultat. Selten wurde eine Vorlage in der Geschichte der Schweiz derart deutlich angenommen.
Im Jahr zuvor waren die Eidgenössischen Räte nach Graubünden gereist. Der damalige Bundesrat Philipp Etter, ein bedeutender Akteur im Kampf um die Anerkennung des Rätoromanischen, erinnert sich später in einem Interview an diese Reise.
Ein Volk zwischen Hitler und Mussolini
Der Romanist Rico Valär, selbst Rätoromane und ab August Professor für Rätoromanische Literatur und Kultur an der Universität Zürich, ist überzeugt: Es ist kein Zufall, dass das Rätoromanische so kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zur vierten Landessprache wurde.
Am Ende der Zwischenkriegszeit – einer Zeit, in der es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker ging – habe man immer mehr die eigene Identität, die Selbständigkeit der Schweiz zelebriert. So konnte die kleinste Minderheit der Schweiz Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Werbung dafür machen, dass auch sie als ein Teil der Schweiz anerkannt werde. «Die Umstände dieser Zeit waren ideal», ist Valär überzeugt.
Das Selbstbewusstsein wächst erst langsam
Das sei bei der Gründung des modernen Bundesstaates noch anders gewesen: «Dass man 1848 bereits die Rechte einer so kleinen Minderheit berücksichtigt hätte, und dass die Rätoromanen diese Rechte eingefordert hätten, da war man damals noch überhaupt nicht so weit.»
Denn das Bewusstsein der Rätoromanen für Ihre Sprache und Kultur sei damals noch nicht so stark entwickelt gewesen – wie auch das Bild, das die übrige Schweiz noch Anfang des 20. Jahrhunderts von ihnen hatte: «Die Leute hatten keine Ahnung.»
Von einer rätoromanischen Sprachbewegung könne man ab etwa 1880/1890 sprechen, erklärt Valär. Erst da gab es vermehrt auch im Umfeld der aufkommenden Presse und Vereine Bemühungen, das Rätoromanische zu erforschen und eine eigene Literatur zu schaffen. «Und damit einher geht auch ein neues Bewusstsein der Rätoromanen für ihre Sprache und Kultur.» Am Anfang war es allerdings eine Bewegung von Eliten.
Die Geburt der Idee der vierten Landessprache
Wichtig war die Gründung der Lia Rumantscha 1919, dem Dachverband aller rätoromanischen Organisationen. Ein Ziel der Lia war die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Nationalsprache.
Daneben gab es die rätoromanische Studentenbewegung mit Otto Gieré, der als erster sagte: «Gerechtigkeit und Demokratie bedeutet auch, dass eine Sprachminderheit wie die Rätoromanen dieses Recht haben können.» Und da waren Uniprofessoren, Publizisten und Schriftsteller wie Peider Lansel.
Trachten und Liedgut als Propagandawerkzeug
Die «Köpfe» achteten darauf, sich der damals in der ganzen Schweiz verbreiteten Heimat-, Trachten-, Volksliedbewegungen anzuschliessen. «Man hat die rätoromanischen Lieder und Trachten aufleben lassen und ins Volk gebracht.»
So wurde in der Bevölkerung eine Euphorie geschaffen – nicht nur für das Rätoromanische. «Es war die Zeit der geistigen Landesverteidigung. Es ging um eine Euphorie für die Schweiz, für die Schweizer Traditionen, für ein Gegenmodell zum Totalitarismus Deutschlands und Italiens», erklärt Valär. Für ein Modell der Einheit in der Vielfalt, wo nicht die Einheitlichkeit zelebriert wurde, sondern viele verschiedene Facetten der Schweizer Kultur. So habe es dann auch die Euphorie für die kleinste Minderheit gegeben, die wie die kleine Schweiz in Europa Anerkennung und Selbstbestimmung wollte.
Die Verkörperung des idealen Schweizers
Gleichzeitig wurden die Rätoromanen mit dem Bild der Urschweizer verbunden, ein Bild das seit dem Helvetismus des 18. Jahrhunderts bestand. «Der richtige und typische Schweizer ist der Bauer, der seine Scholle verteidigt und pflegt», erklärt Valär, «der seine Landschaft ehrt, der seine Traditionen pflegt.» Und so wurden die Rätoromanen dann dargestellt.
Je mehr Anerkennung die Sprachbewegung und Kultur von aussen erhielt, desto mehr hätten dann die Rätoromanen selbst das Gefühl gehabt, dass man etwas besitze, das man verteidigen müsse.
«Weder Italiener noch Deutsche!»
Und tatsächlich gab es deutsche Wissenschaftler und Politiker, die die Bergler-Sprache ausrotten und alle Bündner deutschsprachig machen wollten. Gleichzeitig hielten die Italiener das Rätoromanische für einen italienischen Dialekt – und deshalb sollten die ganzen Gebiete der italienischen Schweiz, die italienischsprachigen Bündner-Täler aber auch das rätoromanische Gebiet italienisch werden.
Das habe bei den Rätoromanen eine Abwehrbewegung bewirkt: «Wir sind weder Italiener noch Deutsche! Wir sind Rätoromanen und wollen es auch bleiben!».
Im Dienste der geistigen Landesverteidigung
«Es war eine Win-Win-Situation – oder eine gegenseitige Instrumentalisierung», bilanziert Valär. Die Bewegung der geistigen Landesverteidigung wollte eine Art Verteidigungswillen schaffen auf der Grundlage einer gemeinsamen Identität. Und das Rätoromanische habe sich sehr gut in diese Ideologie integriert.
Die gut 92 Prozent Ja der abstimmenden Männer und die Zustimmung aller Stände stellten diese Einheit dann im Resultat dar. «Das hat natürlich auch der geistigen Landesverteidigung gedient».
Die verzögerte Geburt der viersprachigen Schweiz
Ihren Höhepunkt hatte die Ideologie 1939 – ein Jahr nach dem wuchtigen Ja – mit der Landesausstellung in Zürich.
Erstmals war alles viersprachig. Die Einheit wurde zelebriert.
Doch viele Forderungen der Sprachgemeinschaft konnten erst nach 1945 auf nationaler Ebene durchgesetzt werden. Zum Beispiel die Ortsnamen: Bis in die 40er-Jahre stellte die Post einen Brief oder ein Paket nicht zu, wenn es mit Scuol statt Schuls adressiert war, erklärt Valär.
Eine sterbende Sprache?
Dass das Rätoromanische durch Bund und Kanton Unterstützung erhalte sei heute akzeptiert, bilanziert Valär. «Durch die rätoromanischen Medien wird die Sprache auch in der übrigen Schweiz wahrgenommen und geniesst Anerkennung.»
Bei der Volkszählung 1941 waren es 46'000 Personen, die Rätoromanisch als ihre Muttersprache angaben, heute noch knapp 40'000. Mittelbünden ist germanisiert worden, ebenso das Oberengadin.
Ein Drittel der Rätoromanisch Sprechenden lebt heute nicht mehr in den Stammgebieten - wie pflegt die zweite oder dritte Generation dort das Rätoromanische weiter? Stirbt die Sprache aus?
Gerade die Kulturszene zeige, sagt Valär, wie lebendig und innovativ das Rätoromanische sein könne. Er gibt sich denn auch optimistisch: «Von Sterben kann keine Rede sein».