Sieben Uhr morgens, es ist kalt in Andermatt. Trotz des schönen Oktoberwetters ist die Sonne noch nicht über die Gipfel des Gotthardmassivs geklettert.
Im Lagerhaus Casa Popolo regt sich Leben. Elf Jugendliche, sechs Jungen und fünf Mädchen aus verschiedenen Deutschschweizer Kantonen, leben gerade hier. Einige freiwillig – andere nicht. Sie alle sind Teilnehmer eines Lagers, das das Sportamt des Kantons Basel-Stadt organisiert. Auf dem Programm steht vor allem ein Punkt: abnehmen.
Gesprächig ist noch niemand. Es ist eine harte Woche. Während andere Jugendliche ihre Herbstferien geniessen und wahrscheinlich noch tief schlafen, steht man hier in der Kälte. Frühstück gibt es später, Walking ist angesagt.
Steine am Weg
Die Route verläuft entlang der grossen Baustellen rund um den Bahnhof und weiter durch die Felder ausserhalb des Dorfes. Sportleiterin Selina Ferreira erklärt unterwegs das Konzept hinter dem Morgensport: «Jedes Kind hat einen Stein. Wer es schafft, eine Strecke zu joggen oder an seine Leistungsgrenze zu gehen, kann den Stein ans Ende dieser Strecke legen.» So sehen die Kinder jeden Tag die Fortschritte, die sie gemacht haben.
Ersichtlich werden aber auch Unterschiede in der Leistungsfähigkeit. Die Jugendlichen teilen sich in drei Gruppen auf. Die Schnellsten, die eine grosse Runde laufen, die Mittleren, die einen kürzeren Weg joggen und die Langsamen, die nur gehen. Einer ist bereits zum Lagerhaus zurückgekehrt.
Ungefähr eine halbe Stunde später: Gefrühstückt wird immer noch nicht, im Esszimmer steht jetzt aber ein Buffet. Aufgetischt werden Wurstwaren, Käse, Birchermüesli, Cornflakes und Vollkornbrot – eigentlich ganz normales Lageressen. «Je länger das Lager dauert, desto grösser wird die Auswahl der Nahrungsmittel», sagt Lagerleiterin Sabine Döbelin. Zuhause stehe oftmals ein Überangebot auf dem Esstisch. So sollen die Jugendlichen lernen, damit umzugehen.
Birchermüesli oder Brot
Vor dem Essen-Fassen muss sich jetzt noch jeder Teilnehmer vor die Gruppe stellen und sein Hungergefühl auf einer Skala von eins bis zehn einordnen. Das soll das Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse schärfen. Die Meisten geben heute eine Zahl zwischen sieben und zehn an. Eine Velotour am Vortag hat viel Energie verbraucht.
Am Buffet dürfen sie dennoch nicht zugreifen, wie sie wollen. Die Portionen sind reglementiert. «Was müsst ihr tun, wenn ihr beides wollt: Birchermüesli und Brot?», fragt Döbelin in die Runde. «Eine halbe Schüssel Müesli und weniger Brot nehmen», antwortet einer nach einer Weile.
Beim Essen geben sich die Teilnehmer dann so, wie sie wirklich sind: wie Teenager. Das Gespräch dreht sich auf eine unschuldig zweideutige Weise um Dinge, von denen Erwachsene nichts wissen dürfen und wenn doch mal einer zuhört, brechen alle in lautes Gekicher aus. Zwei Jungen sprechen von ihren selbstgebastelten Pokémon-Karten, die Mädchen sind Fans von Melina Sophie – einer Youtuberin aus Deutschland.
Die Arme und Hände vieler Teilnehmer sind mit Smileys übersäht. Wenn es gerade nichts zu tun gibt, bemalt man sich gegenseitig. Der Umgang ist vertraut. «Ich bin gerne hier. Es ist eine coole Gruppe», sagt Letizia (13). Sie freue sich aber auch auf zuhause, wo es weniger Regeln gibt und man endlich mal ausschlafen könne.
Mitverantwortlich für die respektvolle Stimmung ist wohl auch Lina* (16), die älteste Teilnehmerin. «Lagermama», nennen sie die Anderen. «Für mich war es sehr schwierig, mich überhaupt fürs Lager anzumelden», erzählt sie. Sie habe sich Fragen gestellt wie: «Was, wenn ich die Dickste von allen bin?» und die Entscheidung deshalb lange hinausgezögert. Im Lager fühle sie sich jetzt aber wohl. Manchmal vermisse sie ihre Mutter ein bisschen.
Das Zmittag
Nach dem Abwasch legt Ernährungsberaterin Ursula Schweizer ein Lachsfilet, ein Kilo Vollkornreis und einen Stapel mit Kochbüchern auf den Tisch. Für die Hälfte der Jugendlichen geht das Sportprogramm jetzt in einer nahegelegenen Turnhalle weiter. Die Anderen versammeln sich um den Tisch und besprechen das Menü für den nächsten Tag.
«Welche Kräuter mögt ihr?», fragt Schweizer die Jugendlichen. Eine wirkliche Antwort haben sie darauf nicht. Trotzdem einigen sie sich in einer Abstimmung auf ein Kräuter-Risotto und wollen den Lachs so zubereiten, wie es die Schwester eines Teilnehmers immer macht. Das Tiramisu, das die Jugendlichen zum Dessert vorgesehen haben, wird nach einer Prüfung durch die Leiter zu einer Aprikosen-Biskuit-Schnitte. Leicht gelenkte Basisdemokratie.
Als nächstes steht Einkaufen auf dem Programm. Im Supermarkt erklärt Schweizer den Jugendlichen den Unterschied zwischen festkochenden und mehlig-kochenden Kartoffeln. Dann suchen alle gemeinsam die benötigten Zutaten zusammen. Ein Teilnehmer erklärt währenddessen seinen eigenen Menüplan: «Ich esse eigentlich alles – nur Gemüse nicht.»
Beim Mittagessen könnte das schwierig werden. Es gibt Gemüsesuppe. Das Essen schmeckt gut und gesund. Es enthält wenig Salz und wenig Fett. Als Dessert wird Apfel-Crumble mit Vanilleglace aufgetischt.
Die Gewohnheiten der Eltern
Aber wieso gibt es ein Dessert, wenn die Teilnehmer doch abnehmen sollen? Lagerleiterin Sabine Döbelin erklärt: «Die Jugendlichen sollen hier lernen, sich so zu ernähren, wie sie es auch zuhause tun können.» Aller Aufwand im Lager bringe nichts, wenn die Teilnehmer nach einer Woche wieder in ihre alten Gewohnheiten zurückfallen.
Zuhause. Das ist ohnehin ein grosses Thema hier im Lager. «Was wir vermitteln, betrifft nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch ihre Eltern», sagt Döbelin. Die seien aber in vielen Fällen nicht bereit, die Ernährung der gesamten Familie zu verändern.
Das schlägt sich auf die Erfolgsquote nieder: Nach einer Woche haben zwar alle Teilnehmer ein bis zwei Kilo weniger auf den Hüften, die Leiter sind aber froh, wenn es eines von elf Kindern langfristig schafft, abzunehmen.
Die Frage nach dem Geld
Es ist Nachmittag. Jetzt haben sich alle Teilnehmer in der Turnhalle versammelt. Sie üben Tai-Chi – nicht unbedingt ihr Lieblingssport. Neben den eleganten Bewegungen der Sportpädagogen, die das Training begleiten, wirken die der Jugendlichen oft unsicher. Die meisten von ihnen haben kein gutes Körpergefühl. Was aber auch auffällt: Niemand beschwert sich, niemand motzt. Die Jugendlichen bewegen sich.
Angeleitet werden sie von Sozialarbeiter Renato Burget. Er weiss sehr genau, wie man sich als dickes Kind fühlt. Er war selber eines. «Als ich elf war, hatte ich 35 Kilo Übergewicht», erzählt er. Das habe sich stark auf seine Kindheit ausgewirkt. «Als Übergewichtiger kann man weniger schnell rennen als die Anderen, man wird gehänselt.»
Der Wendepunkt sei für ihn gekommen, als der Schularzt ihn nach der Einschulung in die Sekundarschule zur Seite genommen und seiner Familie vorgeschlagen habe, an einem einjährigen Programm teilzunehmen. «Wir haben das dann als Familienprojekt durchgezogen und ich habe es als eine tolle Zeit in Erinnerung», sagt Burget, der heute nach einigen Rückschlägen ein normales Körpergewicht hat.
Dass man die Familie miteinbeziehen müsse, wenn Kinder langfristig abnehmen sollen, steht für ihn fest: «Ein Lager wie dieses ist ansonsten nur ein Tropfen auf den heissen Stein.» Ein Konzept für eine längerfristige Begleitung von übergewichtigen Jugendlichen und ihren Familien hat er bereits ausgearbeitet. Umsetzen kann er es aber nicht. Bisher hat sich niemand gefunden, der die Finanzierung übernimmt.
*Die Namen aller Teilnehmer wurden geändert