Wie gewonnen – so zerronnen. So etwa lässt sich das Nein zur Konzernverantwortungs-Initiative umschreiben. Denn eigentlich hat eine Mehrheit der Abstimmenden Ja gesagt und doch ist sie gescheitert: am Ständemehr. Nun ist eine Diskussion entbrannt, ob das Ständemehr noch zeitgemäss ist. Für Politologin Michelle Beyeler, ist die Antwort klar.
SRF: Braucht es das Ständemehr noch?
Michelle Beyeler: Als man es eingeführt hatte, war das Ständemehr sinnvoll. Damals hat man aus verschiedenen kleinen Ständen einen Staat gemacht. Weil sich nicht alle einig waren, wie dieser Staat aussehen soll, hat man den Kantonen mehr Möglichkeiten gegeben. Das Ständemehr war damals sinnvoll – und ist es auch heute noch.
Warum auch heute noch?
In der Schweiz kann man mit der Volksinitiative relativ einfach eine Verfassungsänderung bewirken. Wenn eine solche Änderung nun relativ weit geht, ist es sinnvoll, wenn die Mehrheit der Kantone das Vorhaben blockieren kann.
Die Gegner des Ständemehrs sagen, dass es den kleinen Landkantonen viel zu viel Gewicht gäbe.
Es stimmt, dass es ihnen viel Gewicht gibt. Aber ist es zu viel? Die Grundidee ist, dass nicht nur die Grossen allein entscheiden können. Die kleinen Kantone haben mit dem Ständemehr eine Vetomöglichkeit. Nicht eine hauchdünne Mehrheit soll entscheiden können, sondern es sollen möglichst viele Schweizer hinter einer Änderung stehen. Mit unserem System schafft man das.
1848 – bei der Gründung des modernen Bundesstaats – wog eine Stimme aus Appenzell elfmal mehr als eine Stimme aus Zürich. Heute hat eine Stimme aus Appenzell 40 Mal mehr Gewicht. Ist da nicht etwas aus dem Gleichgewicht geraten?
Das ist ein Argument. Aber heute ist es zum Beispiel auch viel einfacher geworden, Unterschriften für eine Initiative zu sammeln. Es braucht dort auch immer noch gleichviel wie bei der Einführung.
Es ist eine gewisse ‹Amerikanisierung› eingetreten.
Das kann auch dazu führen, dass die kleinen Kantone stark politisch beackert werden von den Abstimmungskomitees. Lässt sich das beobachten?
Es ist mir bei dieser Abstimmung zum ersten Mal aufgefallen, dass das passiert. Es ist eine gewisse «Amerikanisierung» eingetreten.
Gibt es denn Ansätze, wie man die Regeln für das Ständemehr anpassen könnte?
Eine Abschaffung ist schwierig. Denn diejenigen, die diese Blockade nutzen können, können die Abschaffung dadurch auch verhindern – die Verfassungsänderung müsste auch vom Ständemehr angenommen werden. Das ist nicht realistisch. Die Frage ist also, ob man es sonst relativieren könnte. Ein Vorschlag ist, dass man die Standesstimmen proportional verteilen könnte – gemessen an der Anzahl der zustimmenden Bevölkerung.
Das wäre für mich das schweizerische Vorgehen: So hat man eine bessere Abbildung der Haltung der Menschen.
Haben solche Ansätze eine Chance?
Ich kann es mir vorstellen. Die Schweiz hat ein bisschen ein proportionales System, mit welchem man diese Standesstimme einsetzen kann. Es wäre zwar nach wie vor so, dass eine Stimme in Appenzell vierzig Stimmen in Zürich bedeuten. Aber die Standesstimme wird dann noch mit dem Abstimmungsresultat multipliziert, was eine höhere oder weniger hohe Standesstimme zur Folge hätte. Man schaut also, wie stark die Bevölkerung in einem Kanton tatsächlich blockieren will. Das wäre für mich das schweizerische Vorgehen: So hätte man eine bessere Abbildung der Haltung der Menschen.
Das Gespräch führte Claudia Weber.