Am Mittwoch, 15. März 1944 wird die Luft auf dem englischen Militärflughafen Mildenhall von ohrenbetäubendem Lärm erschüttert. Mehr als 800 Bomber starten zu einem Angriff auf Nazi-Deutschland. Am Steuer einer der Maschinen sass der Vater von Sophie Kaminarides-Blott. Auf einer Bank im Green Park in London erzählt Sophie, wie Walter Blott den schweren Bomber von England nach Frankreich Richtung Paris flog.
Der letzte Einsatz von Lancaster Mk1 W4355 LS-A
Stuttgart war das eigentliche Ziel, doch dieses hat der Bomber nie erreicht. «Noch bevor sie nach Stuttgart abdrehen konnten, wurden sie von einem deutschen Jagdflieger beschossen.»
Die Lancaster wird getroffen. Walter Blott spürt einen Schlag. Im Cockpit breitet sich Rauch aus. Ein Motor fällt aus. Blott befiehlt seiner sechsköpfigen Crew, sich auf den Absprung mit dem Fallschirm vorzubereiten. Die Maschine überfliegt von Norden kommend den Jura Richtung Bielersee. Über Lamboing springt der Funker ab. Die restliche Crew in der Nähe von Prêles und Lüscherz. Über dem Berner Seeland kann Blott die Maschine nicht mehr halten und springt bei Kallnach in die Nacht.
«Da Deutsch?» – «Nei, Schwiiz»
Wenige Minuten später stürzt der Bomber im kleinen Dorf Golaten ab, erzählt der Dorfchronist Fritz Baumann. Dort, wo das Flugzeug zum Stehen kam, wächst heute Mais. In den Bäumen, die der dreissig Tonnen schwere Bomber damals abrasierte, pfeifen Vögel. Noch Jahre später habe man beim «Härdöpfu grabe» jeweils Plexiglas- und Metallstücke gefunden. Ganz blieb dagegen Pilot Blott. Der ging zwei Kilometer westlich zu Boden. In seinem Tagebuch notierte er später, wie er seinen Fallschirm versteckte und sich ängstlich einem Bauernhaus näherte.
-
Bild 1 von 2. Das Wrack des britischen Bombers nach dem Absturz in Golaten. Bildquelle: Fritz Baumann/ZVG.
-
Bild 2 von 2. Noch Jahre später wurden auf dem Acker Überreste der zerstörten Maschine gefunden. Bildquelle: Fritz Baumann/ZVG.
«Verzweifelt klopfte ich an die Tür. Eine Frau mit einem kleinen Kind öffnete. Ich fragte: ‹da Deutsch?›. Sie antwortete: ‹Nei, Schwiiz›. Ich war erleichtert und versuchte ihr zu erklären, dass ich ein englischer Pilot sei. Als Beweis zeigte ich ihr englische Münzen, die ich in meiner Tasche hatte. Dann kam ihr Mann, hörte zu und nahm mich bei der Hand.»
-
Bild 1 von 3. Walter Blott diente im Zweiten Weltkrieg in der britischen Royal Air Force. Bildquelle: Fritz Baumann/ZVG.
-
Bild 2 von 3. «Geflüchtet, repatriiert, jetzt zurück in Grossbritannien»: In Archivunterlagen der britischen Armee ist das Schicksal der Besatzung des Lancaster-Bombers dokumentiert. Bildquelle: Fritz Baumann/ZVG.
-
Bild 3 von 3. Dorfchronist Fritz Baumann am Ort, an dem der Weltkrieg das beschauliche Dörfchen erreichte: Wo der britische Bomber 1944 abstürzte, wächst heute Mais. Bildquelle: Patrik Wülser/SRF.
Der Bauer führte den englischen Piloten in die Dorfbeiz. In der «Sonne» gab es eine warme Suppe und Cognac. Am Morgen brachte man Walter Blott auf einem Wägeli nach Aarberg ins Spital, wo auch die anderen Crew-Mitglieder verarztet wurden. Glück hatte nicht nur die Besatzung, sondern das ganze Dorf.
«In den Obstbäumen hat es den Bomber zerlegt. 60 Meter von diesen zwei Bauernhäusern entfernt. Wir sind damals also recht knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt», blickt Fritz Baumann zurück.
Am Sonntag steigt das «Bomberfest»
80 Jahre sind es her, seit die Weltgeschichte nachts auf ein kleines Schweizer Dorf stürzte. Weil dabei niemand zu Schaden kam, will man feiern. Am kommenden Sonntag soll ein «Bomberfest» steigen. Die Festrede halten wird einer, der mit dem Seeland und dem Militär vertraut ist – alt Bundesrat Samuel Schmid: «Es ist berührend. Ich habe Jahrgang 1947 und damit die Gnade des Nachkriegsgeborenen. Aber ich habe als Jugendlicher von den Eltern und den Grosseltern noch unmittelbar mitbekommen, was Krieg bedeutet.»
Der ehemalige Verteidigungsminister steht an jenem Morgen auf dem geschichtsträchtigen Acker in Golaten und sinniert, was er am Sonntag sagen könnte. «Man hat leider keinen schöneren Namen als ‹Bomberfest› gefunden. Man kann das unterschiedlich interpretieren. Doch die Dorfbewohner meinen es sicher nicht martialisch. Als ein britischer Bomber mitten im Krieg hier «z'Bode isch cho» war das natürlich ein grosses Ereignis. Und die Besatzung war unterwegs, einen Beitrag zu leisten gegen Hitler und damit auch für die Schweiz.»
Als die Lancaster-Maschine in Golaten «z'Bode isch cho», kam niemand ums Leben. Aber unbeschädigt blieb die Besatzung nicht. Nach der Rückkehr nach England habe ihr Vater ein Leben lang nie über diesen Einsatz gesprochen, erzählt seine Tochter auf der Parkbank in London mitten im Abendverkehr.
Mein Vater erzählte mir erst kurz vor seinem Tod im Alter von 96 Jahren, dass er jede Nacht von diesem Absturz geträumt hat.
Wenn im Fernsehen ein Kriegsfilm ausgestrahlt wurde, habe er sich abgewendet und den Raum verlassen, erzählt Sophie. «Heute würde man wohl von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen. Diese Männer waren alle zwischen 18 und 22 Jahren alt. Sie haben Bomben auf Städte abgeworfen, wurden beschossen und verletzt. Mein Vater erzählte mir erst kurz vor seinem Tod im Alter von 96 Jahren, dass er jede Nacht von diesem Absturz geträumt hat.»
Gedenken an umstrittene Bombardements
Ein Steinwurf entfernt steht im Green Park das «Bomber Command Memorial». In einer schlichten Zeremonie wird hier jedes Jahr im November den 60'000 alliierten Bomberbesatzungen gedacht, die von ihren Einsätzen nicht mehr zurückgekehrt sind, aber ebenso den schätzungsweise 400'000 zivilen Opfern der Bombardements, deren Nutzen militärisch und moralisch bis heute umstritten ist.
Walter Blott ist nie an die Absturzstelle nach Golaten zurückgekehrt. Seine Tochter wird dagegen am kommenden Sonntag in die Schweiz reisen und jenen Acker aufsuchen, wo der Nachtflug ihres Vaters vor 80 Jahren endete.