Vor fünf Jahren donnerten im bündnerischen Bergell mehrere Millionen Kubikmeter Granit in die Tiefe. Die Felsmassen begruben acht Berggänger unter sich. Nur wenige Sekunden danach wälzte sich ein gewaltiger Murgang ins Dorf Bondo. Am 23. August jährt sich das Unglück zum fünften Mal.
Es wäre schon schön, wenn das irgendwann beendet wäre.
Der Tod ihres Vaters beschäftigt Dorothea Karalus bis heute. Der 62-jährige Helmut Karalus, ein erfahrener Alpinist, war zusammen mit seinem Kletterpartner auf dem Rückweg nach Deutschland, als der Bergsturz ins Tal donnerte und insgesamt acht Menschen begrub. Seine Tochter sagt: «Jedes Mal, wenn dieses Verfahren in eine neue Etappe geht, ist es anstrengend und belastend.» Statt sich an schöne Momente mit ihrem Vater erinnern zu können, dominierten die offenen Fragen rund um die damaligen Geschehnisse: «Es wäre schon schön, wenn das Verfahren irgendwann beendet wäre.»
Hätten die Behörden das Tal sperren müssen?
Gleich nach dem Bergsturz waren die Betroffenheit und das öffentliche Interesse riesig. Die Bündner Behörden rechtfertigten sich vor laufender Kamera: Der Bergsturz sei nicht vorhersehbar gewesen. Diese Einschätzung übernahm zwei Jahre später die Staatsanwaltschaft und stützte sich dabei auf ein ausführliches Gutachten des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN). Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, niemand treffe eine Schuld.
Mehrere Angehörige der Opfer akzeptierten diesen Entscheid nicht und gingen vor Gericht, darunter Dorothea Karalus und ihre Mutter. «Für uns ist noch immer die grosse Frage, wieso das Tal nicht gesperrt wurde. Es gab jährliche Messungen, und die Einschätzung des Geologen, der die Messungen im August 2017 auswertete, war sehr drastisch.»
Ungewöhnlich sei auch, dass sich die Staatsanwaltschaft damals auf das Gutachten des AWN gestützt habe. Just dieses Amt hatte der Gemeinde nach Auswertung der Messresultate empfohlen, das gefährdete Bondasca-Tal offenzulassen. Dorothea Karalus: «Deswegen wäre es uns so wichtig, dass sich das jemand nochmals unabhängig anschaut.»
Auch Experten fordern ein unabhängiges Gutachten
Letztes Jahr gab das Bundesgericht den Angehörigen recht: Das Gutachten des kantonalen Amts sei problematisch, der Fall müsse nochmals aufgerollt werden. Wie viele Fragen noch offen sind, machte danach die Zeitschrift «Beobachter» in einer dreiteiligen Recherche publik. So gab es schon Jahre zuvor Pläne, den gefährdeten Wanderweg zu verlegen. Kurz vor dem Bergsturz wurde eine permanente Überwachungsanlage diskutiert, aber erst zwei Wochen nach dem Bergsturz realisiert.
Gegenüber dem «Beobachter» hatten mehrere Experten ein unabhängiges Gutachten gefordert. Einer von ihnen ist Florian Amann, heute Geologieprofessor an der Universität Aachen. Er forscht seit Jahren zum Piz Cengalo und sagt, hier gehe es für beide Seiten um eine Aufarbeitung: «Es ist aus meiner Sicht extrem wertvoll, wenn man eine ganz nüchterne Aufarbeitung dieses Falls hat – von einem Experten, der von beiden Seiten akzeptiert und anerkannt ist.»
Umstrittener Gutachter
Doch die Wahl dieses Experten sorgt jetzt für die nächste Unstimmigkeit und beschäftigt mittlerweile das Bündner Kantonsgericht. In den Augen der Angehörigen ist der von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Experte, ein Schweizer Geologe, möglicherweise befangen. Der Grund: Seine Firma, bei der er Verwaltungsratspräsident und Teilhaber ist, arbeitet seit langem gelegentlich mit dem involvierten Amt für Wald und Naturgefahren zusammen.
Die Firma des vorgeschlagenen Experten hatte zwar nie einen Auftrag am Piz Cengalo, dem Ort des Bergsturzes. Doch sie war zum Zeitpunkt des Unglücks substantiell an einem Unternehmen beteiligt, das seit 2013 im Gefahrenmanagement rund um den Piz Cengalo tätig ist, zeigen Recherchen von SRF.
Die Unabhängigkeit des Gutachters ist gleich wichtig wie die Unabhängigkeit des Richters.
Andreas Donatsch ist emeritierter Strafrechtsprofessor der Universität Zürich. Zum konkreten Fall äussert er sich nicht. Er sagt aber allgemein: Rechtlich reiche der Anschein der Befangenheit. Generell könne dies jedoch nicht beurteilt werden. Ein Gericht müsse immer den konkreten Fall prüfen. «Die Unabhängigkeit des Gutachters ist gleich wichtig wie die Unabhängigkeit des Richters», erklärt Donatsch. Der Gutachter vermittle Wissen, das der Richter nicht oder nur teilweise überprüfen könne: «Deshalb ist seine Unabhängigkeit zentral».
Grundsätzlich sei es sinnvoll, einen Experten zu wählen, mit dem alle Seiten einverstanden seien, so Donatsch weiter, dann werde das Gutachten und später auch das Urteil von allen Beteiligten eher akzeptiert.
Vorschläge für andere Gutachter gab es, beispielsweise deutschsprachige Experten aus dem Ausland, mit deutlich mehr Distanz zu Graubünden. Das geht aus den Justizakten hervor, die Angehörige SRF zur Verfügung gestellt haben. Die Staatsanwaltschaft wollte sich wegen des laufenden Verfahrens nicht zu ihrem Entscheid äussern.
Ob der Schweizer Geologe als Experte infrage kommt, muss nun das Bündner Kantonsgericht entscheiden.