- Jahrzehntelang wurden unliebsame Personen ohne Gerichtsurteil in Anstalten weggesperrt. Es dürften klar mehr als 10'000 Menschen gewesen sein.
- Dies zeigt ein erster Bericht der Unabhängigen Expertenkommission (UEK), welche die sogenannten administrativen Versorgungen untersucht. Der Bundesrat hat sie 2014 eingesetzt.
- Besonders viele Menschen wurden in den 1930er Jahren und in der Zeit des Zweiten Weltkrieges weggesperrt.
Seit anderthalb Jahren sind die 30 Mitarbeiter damit beschäftigt, Archive zu durchforsten oder mit Zeitzeugen zu sprechen. Eine, vielleicht die zentrale Grund-Frage: Wie war so etwas möglich? Was war das Motiv, um Menschen ohne Gerichtsurteil wegzusperren?
Von «arbeitsscheu» und «liederlich»
Eine Erkenntnis hier: Das Geld spielte eine grosse Rolle. Das sagt Martin Lengwiler, Geschichtsprofessor an der Universität Basel und einer der unabhängigen Experten: «Ein zentrales Motiv war die Angst, dass Leute der Armut anheimfallen und damit auch den Fürsorgefonds zur Last fallen.»
Besonders gefährdet waren darum alle Menschen, die kein geregeltes Einkommen hatten. Sie bekamen von den Behörden Stempel wie «arbeitsscheu» oder «liederlicher Lebenswandel». Vor diesem Hintergrund erscheint ein anderes Ergebnis der bisherigen historischen Untersuchungen naheliegend:
Ging es der Wirtschaft schlecht, wurden mehr Menschen versorgt. Das zeigte sich vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: «Die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren ist eine Phase in der viel ‹versorgt› wurde, während des Zweiten Weltkriegs hatten wir auch relativ viele administrative Versorgungen.»
Nie abgeschickte Briefe als wichtige Quellen
Dokumentation
Umgekehrt gingen in den Nachkriegsjahren, während des Wirtschaftsbooms der 1950er und 1960er Jahren, die Fallzahlen stark zurück. Doch unabhängig von der Anzahl der Versorgten: Für jeden Einzelnen, für jede Einzelne war dieses Wegsperren ohne Grund ein traumatisches Erlebnis.
Das zeigt sich auch in Briefen, die die Betroffenen seinerzeit schrieben, die aber nie abgeschickt wurden. Nun hat man sie in Archiven wiedergefunden und ausgewertet. Historiker Lengwiler sagt dazu:
Man hat keine Straftat begangen und man wird trotzdem weggesperrt, verliert dann auch den Zugang zu Geschwistern und Eltern, das ist höchst traumatisierend und stigmatisierend.
Das präzise Ausmass dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte bleibt unklar. Zwar kennt man die ungefähre Zahl der noch lebenden Betroffenen: 12'000 bis 15'000. Wie viele Menschen aber seit dem späten 19. Jahrhundert bis 1981 in Schweizer Kliniken oder Gefängnissen insgesamt administrativ versorgt wurden, können die Historiker heute noch nicht abschätzen. Im Schlussbericht, der in zweieinhalb Jahren fertig sein soll, soll dann aber eine solche Zahl stehen.