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Schweizer Stahlindustrie: Wie Stahl Gerlafingen in 200 Jahren ökologischer wurde
Aus Schweiz aktuell vom 14.06.2023.
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Ältestes Schweizer Stahlwerk Stahl Gerlafingen: Von der Dreckschleuder zum Wirtschaftswunder

Bewegte Geschichte: Das Stahlwerk Gerlafingen feiert das 200-jährige Bestehen und steht 24 Stunden still. Was seither alles gegangen ist.

Seit 1823 wird in Gerlafingen (SO) Stahl produziert. Das Werk ist das älteste Stahlwerk der Schweiz – und mit Swiss Steel in Emmenbrücke (LU) eines der beiden letzten, das noch Schweizer Stahl produziert. Der ehemalige Dorfarzt Reto Scartazzini erinnert sich an viel Rauch, aber auch an Kindheitsnachmittage auf dem Schrottplatz.

Stahl kommt meist aus China oder Indien. Die Zeiten, in denen Arbeiter in der lärmigen Fabrik bei hohen Temperaturen und russiger Luft Stahl kochten, sind nicht vorbei, aber das Stahlwerk hat sich verändert. Heute verwertet die Fabrik in Gerlafingen einen Grossteil des Schweizer Altmetalls und produziert daraus wiederum Stahl. Die Umweltthematik ist omnipräsent.

Stahlwerk
Legende: Das Stahlwerk Gerlafingen. Zu Glanzzeiten produzierten 3000 Angestellte hier Stahl. Nun sind es noch rund 500. Es ist das älteste Stahlwerk der Schweiz. SRF/Alex Moser

30 Jahre war Hausarzt Reto Scartazzini auch Werksarzt der Stahl Gerlafingen. Er ist hier aufgewachsen. «Für uns Buben war es ein Paradies. Wir spielten auf dem Schrottplatz vor dem Stahlwerk und fanden spannende Dinge».

Gerlafingen entwickelte sich vom Bauerndorf zum Industriedorf. Arbeiterwohnungen, Baracken, Direktionsvillen und Schulen wurden gebaut. Italiener seien nach Gerlafingen gekommen, später Arbeiter aus der Türkei, aus dem ehemaligen Jugoslawien, erzählt der 86-Jährige.

Die Rauchwolken sind als Erinnerung noch sehr präsent.
Autor: Reto Scartazzini Ehemaliger Werksarzt

Die Umweltbelastung sei sicht- und fühlbar gewesen, erinnert sich Scartazzini: «Die Rauchwolken sind noch sehr präsent in der Erinnerung. Auch der Staub im Garten – es hat je nach Wind gestunken.»

Stahlwerk
Legende: Stahl kochen: Im Stahlwerk Gerlafingen wird viel Altmetall eingeschmolzen und verarbeitet. SRF/Alex Moser

Gelber Qualm in der Luft, belastete Böden, Schwermetalle im Fluss. «Die Umweltbelastung war von Anfang an ein Riesenthema, Erz in der Emme, das wollten die Anwohner nicht», erklärt der Solothurner Historiker André Schluchter.

Geschichte des Stahlwerks Gerlafingen

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Legende: Einblick in die Von Roll (später Stahl Gerlafingen 1996. Keystone/Martin Rüetschi

Im Jahr 1813 gründete Franz Peter Ludwig Leo Freiherr von Roll von Emmenholz die Ludwig von Roll'schen Eisenwerke. Ab 1818 wurde in Gerlafingen aus Roheisen Stahl produziert. Die Gründung der Aktiengesellschaft 1823 markiert den offiziellen Beginn der heutigen Firmengeschichte, weshalb 2023 das 200-Jahr-Jubiläum gefeiert wird.

Eine erste Blütephase erlebte das Eisenwerk in Gerlafingen während der Industrialisierung ab ungefähr 1830, als der Eisenbedarf in ganz Europa stark anstieg. Unter anderem wurde 1836 ein Walzwerk für Blech in Betrieb genommen.

Nach einem wirtschaftlichen Auf und Ab durch Krieg und Konkurrenz aus dem Ausland wurde 1918 das heutige Stahlwerk in Betrieb genommen. In den folgenden Jahren nahm die Produktion stetig zu. Im Zweiten Weltkrieg sicherte das Werk einen Grossteil der Schweizer Versorgung mit Eisen und Stahl.

Vollgas in den 1960er-Jahren

Die eigentliche Blütezeit des Stahlwerks war in den 1960er Jahren. In dieser Zeit arbeiteten über 3000 Personen für den Betrieb. In den Jahrzehnten danach verringerte sich der Personalbestand aber rasch wieder. Infolge der Fokussierung auf spezifische Märkte und den technischen Fortschritt arbeiten heute rund 500 Mitarbeitende für das Stahlwerk. Trotz Personalreduktion stieg die Produktionsmenge an.

Viele Besitzerwechsel

Um den Jahrtausendwechsel wechselte das Stahlwerk mehrmals die Besitzer. Die Von Roll AG verkaufte den Betrieb an die von Moos AG, die heutige Swiss Steel. 2003 übernahm der Konzern Schmolz und Bickenbach und 2006 schliesslich ging das Stahlwerk an die italienische Beltrame Group, die es noch heute betreibt.

Der Schwerpunkt der Produktion liegt heute auf Stahlprodukten für Bauwirtschaft und Industrie in der Schweiz und Europa.

Strengere Umweltvorschriften

Nach dem Chemieunfall in Schweizerhalle bei Basel 1986 wurden die Schweizer Umweltschutzgesetze verschärft. Auch das Stahlwerk Gerlafingen musste nachrüsten. Es baute als eines der letzten Schweizer Stahlwerke die nötigen Filter ein. Seither habe man immer wieder in den Umweltschutz investiert, sagen die Zuständigen.

Heute funktioniere das Nebeneinander besser, sagt Markus Chastonay vom Solothurner Amt für Umwelt: «Das Ziel ist, die Grenzwerte einzuhalten. Jahr für Jahr, Schritt für Schritt soll es noch besser werden, das haben wir mit Stahl Gerlafingen so vereinbart.»

Mann im Stahlwerkt
Legende: Arbeiten im Stahlwerk: Es müsse mit Blick auf die Umwelt immer noch besser werden, findet der Kanton Solothurn. Das sei das Ziel. SRF/Alex Moser

Die Stahl Gerlafingen hat Krisen überstanden, Streiks, Überproduktionen von Stahl, mehrmalige Besitzerwechsel, hohe Strompreise. Zu den Glanzzeiten arbeiteten über 3000 Personen im Stahlwerk. Unterdessen sind es noch rund 500.

Enormer Stromverbrauch

Zum Schmelzen von Schrott brauche das Unternehmen rund 360 Gigawattstunden Strom pro Jahr, so viel Strom wie etwa 74'000 Schweizer Haushalte. Für Oktober 2022 rechnete das Unternehmen mit Energiekosten von 45 Millionen Franken.

Die hohen Energiepreise bedrohen unsere Existenz.
Autor: Alain Creteur, CEO Stahlwerk Gerlafingen, im Herbst 2022

Das Stahlwerk Gerlafingen musste im Herbst 2022 deswegen Kurzarbeit beantragen. «Die hohen Energiepreise bedrohen unsere Existenz», sagte der Geschäftsführer des Betriebs damals.

Ungewisse Zukunft?

«Gehen in der Schweizer Stahl- und Aluminiumindustrie bald die Öfen aus?», titelte die Neue Zürcher Zeitung diesen April.

Klar ist: Die Geschichte des Solothurner Stahlwerks ist bewegt, seit 200 Jahren wird sie geschrieben. Dafür wurde für die Jubiläumsfeier im 24-Stunden-Betrieb eine Ausnahme gemacht und die Öfen für 24 Stunden stillgelegt. Ein ungewohntes Bild in einem Werk, das trotz Hürden und Krisen immerzu Stahl gegossen hat.

Fürs Jubiläum ruht der Ofen

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Es ist ein äusserst seltenes Ereignis in einem Stahlwerk. Normalerweise brennt der grosse Schmelzofen rund um die Uhr, 24 Stunden, 7 Tage. Das Aufheizen braucht so viel Energie, dass der Ofen ständig in Betrieb bleibt.

Fürs 200-jährige Firmenjubiläum stellt Stahl Gerlafingen den Ofen aber ab. Man wolle allen rund 500 Mitarbeitenden die Teilnahme am Jubiläumsfest ohne Einschränkung ermöglichen, heisst es in einer Mitteilung. Deshalb werde der Ofen für 24 Stunden abgestellt.

Das Jubiläumsfest fand am 14. Juni statt. Rund 800 Gäste waren anwesend, darunter Bundesrat Albert Rösti und Solothurner und Aargauer Regierungsmitglieder.

Audio
200 Jahre Stahl Gerlafingen – es hat sich viel verändert
aus Echo der Zeit vom 14.06.2023. Bild: Keystone/Gaetan Bally
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 45 Sekunden.

SRF 1, Echo der Zeit 14.06.23, 18:00 Uhr ; 

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