«Synchronschwimmen war kein Hobby, das war unser Leben», sagt Aline Stettler (19). Die langjährige Nationalkader-Schwimmerin hat wie auch ihre Teamkolleginnen Anouk Helfer (21) und Fabienne Nippel (19) vor kurzem ihre Karriere beendet – nicht ganz freiwillig und mit viel Frust. «Ich brauchte mega lang, um zu realisieren, dass das gar nicht normal ist», sagt Anouk.
Gemeint ist die Kultur im Synchronschwimmsport und der Umgang mit den Athletinnen. «Man wird sehr viel verbal fertig gemacht. Du bist hässlich, du bist fett, du kannst nichts», sagt Anouk. Rund 20-30 Stunden Training pro Woche absolviert eine Elite-Synchronschwimmerin – neben Schule und Arbeiten.
Das sind gleichzeitig viele Stunden Anschreien, Beleidigungen, Flaschen anwerfen, Trink- oder WC-Verbote. «Es gehört einfach zum Synchro-Leben», sagen die drei ehemaligen Nationalkader-Schwimmerinnen.
Bestätigt werden ihre Aussagen von rund zwei Dutzend ehemaligen und aktiven Athletinnen – und ja, Synchronschwimmen praktizieren auch heute noch praktisch ausschliesslich Frauen – sowie Trainerinnen und Eltern, mit denen SRF Investigativ gesprochen hat.
Druck auf Körper und Seelen
Es klingt nach einem Déjà-Vu: Im Herbst 2020 legten die «Magglingen-Protokolle» Missstände im Turnsport offen. Bereits in einem Gutachten, welches das Sportdepartement VBS im Nachgang erstellen liess, schnitt das Synchronschwimmen unter allen untersuchten Sportarten am schlechtesten ab.
Zu den umstrittenen Trainingsmethoden gehört auch das gewaltsame Dehnen: Wenn sich eine Trainerin mit vollem Körpergewicht auf Beine oder Hüfte der Sportlerinnen setzt oder diese beim Stretching mit Kraft runterdrückt.
«Wir haben dadurch schon viele Verletzungen davongetragen, Muskelrisse oder Zerrungen», sagt Anouk. Sie riss sich etwa als 12-Jährige den Gesässmuskel. Aline hat seit solch gewaltsamen Dehnübungen Probleme an der Hüfte.
«Muskulös sein, ohne muskulös auszusehen»
Am einschneidendsten für die jungen Frauen, so wird in den Gesprächen klar, ist das Body-Shaming. «Man wird viel aufs Körperliche reduziert», sagt Aline. Fabienne: «Dir wird gesagt, deine Arme sind zu dick, deine Beine sind zu dick.» Die Muskeln müssten langgezogen sein, nicht kurz. «Man muss muskulös sein, ohne muskulös auszusehen.»
«Wir waren noch sehr jung, da mussten wir jeden Dienstag auf die Waage stehen», erzählt Anouk. Nach Lagern im Nationalkader seien Briefe mit Rückmeldungen gekommen, wie viele Kilogramm bis zum nächsten Wettkampf abzunehmen seien.
Etliche Teamkolleginnen im Verein und im Nationalkader hätten bald nicht mehr richtig gegessen, nicht wenige eine Essstörung entwickelt. Das Ideal vom kindlichen Körper bestimmt auch heute noch den Sport.
Und zum Karriereende: abgeschoben
Nach all den Belastungen und Entbehrungen, endet für viele Synchronschwimmerinnen die Karriere mit wenig Wertschätzung und einem bitteren Nachgeschmack. Joelle Peschl, die noch bis im letzten Sommer Teil des besten Synchronschwimm-Duetts der Schweiz war, sagt: «Auf meine E-Mail, in der ich meinen Rücktritt bekannt gegeben habe, kam keine Antwort. Ich war jahrelang Nati-Kadermitglied, einfach nichts. Du fühlst dich dann einfach wertlos.» Und sie ergänzt: «Man ist kein Mensch in dieser Welt.»
Auch Anouk, Fabienne und Aline haben vor kurzem ihre Karrieren beendet, nach vielen Jahren im Nationalkader, mehreren Teilnahmen an internationalen Wettkämpfen. Nicht freiwillig, wie sie sagen: «Wir wurden vom Verein rausgemobbt, rausgeekelt».
Anouk erinnert sich: «Ich kam gerade erst von der WM nach Hause. Ich hatte noch Ziele und war in bester Form, als wir plötzlich zur Seite geschoben, nicht mehr trainiert wurden.» Der Verein habe den Fokus auf jüngere Athletinnen gesetzt.
In einer Stellungnahme widerspricht der Verein Sybern den Schilderungen. Man habe sich sehr um eine Aussprache bemüht und es lägen überhaupt keine Anhaltspunkte für eine Verletzung von Verhaltensregeln vor. Die Athletinnen hätten zu den Besten des Vereins gehört und es habe kein Interesse bestanden, dass sie gingen. Auch heute sei man noch an einer versöhnlichen Lösung interessiert (siehe ausführlich in der Box: Das sagen die Angeschuldigten).
Nach langem Gezerre zwischen Athletinnen, Vereinsvorstand und Trainerinnen wechselten die drei vom Verein in Bern nach Basel. Aber leistungsmässig sei schon vieles verloren gewesen.
Zu lange seien sie nicht richtig trainiert worden, sagen sie, und der Zoff habe sich in der kleinen Synchro-Szene rumgesprochen. «Wir haben dann auch diesen Stempel getragen», sagt Fabienne. «Das fliesst an den Wettkämpfen alles in die Bewertung», ergänzt Aline.
Toxische Kultur trifft auf Vetternwirtschaft
Dass Richterposten mit Trainerinnen und Eltern besetzt sind, die an Wettkämpfen ihre eigenen Zöglinge bevorzugen, ist in der Synchronschwimmszene ein offenes Geheimnis. Das bestätigen alle Athletinnen und involvierten Personen.
Joelle Peschl erinnert sich an einen Wettkampf, an dem sie eine schlechte Bewertung bekam und eine Richterin darauf ansprach. «Die sagte: Es tut mir leid, ihr wart klar besser, aber ich musste für die anderen richten. Da habe ich als Schwimmerin die Welt nicht mehr verstanden.»
Der Schwimmverband «Swiss Aquatics» benennt diese Vorwürfe in internen Dokumenten, die SRF Investigativ vorliegen, selber. In einem Schreiben vom Mai 2022 wird das «katastrophale Niveau bei den Richtern» bemängelt. Und weiter: «Eigene Vereine werden systematisch und hemmungslos bevorteilt, ebenso eigene Athletinnen.»
Sportdirektoren treten zurück
Ganz grundsätzlich scheint das Schweizer Synchronschwimmen dysfunktional. Der Schwimmverband schreibt selber von «unhaltbaren Zuständen» und dass in diesem Sportbereich seit Jahren ein Klima der Missgunst herrsche.
Die Co-Sportdirektoren Markus Thöni und Patricia Fahnri haben die Vorwürfe gegenüber SRF zurückgewiesen. Zum Vorwurf der «hemmungslosen» und «systematischen» Bevorzugung könne keine Stellung genommen werden, da ihnen keine Fälle bekannt seien. Auch würden etliche Vorwürfe in die Zeit vor ihren Amtsantritt im Frühling 2021 fallen.
Aufgrund der SRF-Recherche sind die beiden Co-Direktoren Anfang Woche jedoch zurückgetreten. Der Schwimmverband begrüsst diesen Rücktritt. Der Verband könne die Sportart nun hoffentlich neu strukturieren und aufstellen.
«Nie hat uns jemand zugehört»
Unter all den Missständen leiden letztlich die Athletinnen. Sie investieren viel Zeit und Energie, bewegen sich in einem engen Korsett an Erwartungen und Verpflichtungen und werden gleichzeitig kaum angehört.
Anouk, Fabienne und Aline haben sich mithilfe ihrer Eltern gewehrt: Zuerst beim Verein, dann bei der Sportdirektion und beim Schwimmverband sowie der verbandseigenen Beschwerdestelle. Zu einer Bereinigung oder Aussprache kam es letztlich nie.
«Uns wurde entweder nicht zugehört oder das Gefühl gegeben, wir seien das Problem», sagt Anouk. Der Schwimmverband hält in einer Stellungnahme fest, dass die interne Beschwerdestelle sich des Falls angenommen habe: «Es gab mehrere Versuche, Verein und Athletinnen zusammenzubringen, leider hat das nicht geklappt.»
Auch Amherds Integrity-Beschwerdestelle läuft ins Leere
In einem weiteren Schritt haben sich die drei Athletinnen zuerst an die temporäre Beschwerdestelle von Swiss Olympics gewandt. Ab 2022 versuchten sie ihr Glück dann nochmals bei der – aufgrund der Magglingen-Protokolle – neu ins Leben gerufenen Beschwerdestelle «Swiss Sport Integrity». Auch hier: Etlicher Mail- und Telefonverkehr zwischen Eltern und Beschwerdestelle, aber die drei Athletinnen wurden nach eigenen Aussagen kein einziges Mal auch nur angehört.
Ernst König, der Direktor von «Swiss Sport Integrity», verweist auf das neue Ethik-Statut, das erst am 1. Januar 2022 in Kraft getreten ist. Der Streit mit dem Verein Sybern datiere aber auf das Frühjahr 2020.
«Wären die Vorfälle jetzt passiert, hätten wir diese untersucht», sagt König und betont: Obwohl «Swiss Sport Integrity» nicht zuständig gewesen sei, habe man in diesem Fall sehr grosse Anstrengungen unternommen, eine Lösung herbeizuführen.
«Irgendwann hat man keine Kraft mehr»
Letztlich haben die drei Bernerinnen ihren Rücktritt aus dem Synchronschwimmen bekannt gegeben. «Irgendwann hat man keine Kraft mehr», meint Aline. «Ich wäre gerne weiter im Nationalkader geschwommen, nochmals an internationale Wettkämpfe. Das wurde uns genommen», sagt Fabienne.
Die Faszination fürs Synchronschwimmen, den Tanz im Wasser, bleibt trotzdem. «Mir wäre es heute noch lieber, mit einer Trainerin zu trainieren, die mich zum Weinen bringt, als einfach zur Seite geschoben worden zu sein», sagt Anouk. Und fügt an: «Es ist ein bisschen wie in einer Sekte. Du bist seit klein auf da drin. Wirklich aufzuhören und nichts mehr damit zu tun zu haben, das schaffen die wenigsten.»
Sie sind nicht allein: weitere Stimmen aus der Synchronschwimm-Szene
Delphine Hofmann
Die ehemalige Schwimmerin und Trainerin aus der Westschweiz prangert die toxische Trainingskultur an, die massive Auswirkungen auf die Schwimmerinnen habe: «Viele gehen zu einem Psychiater oder sind in Psychotherapie», sagt die 37-Jährige.
Ladina Lippuner
Die 19-Jährige hat sich im Juni noch mit den weltbesten Synchronschwimmerinnen an der WM in Budapest gemessen. Sie bemängelt ein Organisationschaos in der Sportdirektion «Artistic Swimming», die Teil des Schwimmverbands ist. Die Zustände verhinderten eine optimale Vorbereitung auf Wettkämpfe.
Joelle Peschl
Die 23-Jährige war bis im letzten Sommer noch Teil des besten Synchronschwimm-Duetts der Schweiz, bis vor kurzem war sie Trainerin in Bern. Sie sagt: «Ich habe das Gefühl, in dieser Welt bist du kein Mensch.» Und: «Ich kann nicht in dieser Welt bleiben, weil ich daran kaputtgehe.»