SRF: Frau Karle, ist die Menschenrechtssituation heute tatsächlich schlechter als vor 10 oder 20 Jahren?
Alexandra Karle: Es ist schwierig, einen Vergleich zu ziehen. Die Menschenrechte wurden immer verletzt. Wir erinnern uns etwas an Srebrenica oder den Jugoslawienkrieg. Was sich sicher verändert hat, ist der politische Diskurs, der zunehmend vergiftet ist. Zudem nimmt der Respekt vor den Menschenrechten und der Garantie dieser Rechte immer mehr ab, auch bei Regierungen.
Ihre Organisation beschreibt im Bericht weltweit eine politische Stimmung, die von Hass und Zwietracht geprägt sei. Sie vergleicht das Jahr 2016 auch mit den 1930er Jahren als Hitler an die Macht kam. Ist das nicht übertrieben?
Historische Vergleiche hinken immer. Was ähnlich ist wie damals: Die Devise «Wehret den Anfängen» ist heute bedeutungslos geworden. Sie beherrschte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die letzten Jahre hinein die Weltpolitik. An ihre Stelle ist nun eine Rhetorik des Hasses und der Angst getreten.
Propagiert wird auch eine Ausgrenzung der Minderheiten, selbst von Regierungschefs. Wieder salonfähig scheinen auch Schuldzuweisungen an bestimmte Menschengruppen. So entsteht ein Gefühl des «wir gegen die anderen», das extrem gefährlich ist.
Diese Minderheiten werden damit aber auch thematisiert, und das ist an sich ja nichts Schlechtes.
Sicher nicht. Aber dennoch: Mit der Politik der starken Männer wie Trump, Putin, Erdogan oder auch Duterte, die offenbar wieder in Mode kommt, wird Folter wieder alltäglich. Auch dass mit Härte gegen Kritiker vorgeht, man Menschen ausgrenzt. Demokratie und Freiheitsrechte werden da insgesamt in Frage gestellt, und diese Entwicklung kann für die ganze Welt gefährlich werden.
Amnesty kritisiert auch die internationale Staatengemeinschaft für ihre Passivität. Es werde vermehrt bewusst weggeschaut. Ein Beispiel dafür ist das Leiden der Menschen in Aleppo und Syrien. Aber das war ja früher nicht anders, etwa im Bosnien-Krieg in den 1990er-Jahren.
Ja, aber damals hat die Weltgemeinschaft noch reagiert und gehandelt. Aber heute werden die Kriegsverbrechen, die vor unseren Augen stattfinden, kaum noch zur Kenntnis genommen. Dass im Jemen zum Beispiel Schulen und Krankenhäuser bombardiert werden, auch in Syrien. Oder dass Chemiewaffen gegen das eigene Volk in Darfur eingesetzt werden, und es niemanden interessiert. Das ist neu.
Die Welt ist abgestumpfter, die Politik wird nationalistischer. Die Politik der eigenen Interessen geht zu Lasten der internationalen Zusammenarbeit. Und der UNO-Sicherheitsrat ist weiterhin paralysiert durch das Veto der Sicherheitsmächte, und deshalb passiert einfach nichts mehr.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.