Die Verschwörungserzählung rund um satanistische Täter, Rituale und Gedankenprogrammierung ist schwierig zu stoppen – trotz kantonaler Untersuchungen, Schulungen von Fachpersonen und Sensibilisierungsmassnahmen an psychiatrischen Kliniken.
Recherchen von SRF Investigativ zeigen erstmals das Ausmass und die Folgen der Verschwörungserzählung in der Schweiz auf.
Verschwörungserzählung wird in Weiterbildungen verbreitet
In der Deutschschweiz werden oder wurden rund 600 Patientinnen wegen angeblicher Gedankenkontrolle behandelt. Dies gaben 70 Therapeutinnen und Therapeuten an, die an einer anonymen Online-Umfrage der Uni Bern teilgenommen hatten. Dies im Rahmen einer Masterarbeit, die SRF vorliegt.
Es ist keine repräsentative Umfrage, sie zeigt aber erstmals das mögliche Ausmass der Verbreitung auf. Die Universität Bern gibt an, man habe bei der Entstehung der Arbeit keine Kenntnis über die Verschwörungserzählung gehabt und würde die Arbeit heute nicht mehr durchführen.
Weiter hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk von Psychiatern und Psychologinnen gebildet, welches die Verschwörungserzählung rund um Gedankenkontrolle befeuert und weiterverbreitet. Beispielsweise durch Weiterbildungen, Fachbücher, Vorträge und Supervisionen für Fachpersonen. Aber auch durch Veranstaltungen für Politikerinnen und Politiker.
Einer der Exponenten ist der renommierte Berner Psychiater Jan Gysi. Er gilt als Vordenker der Idee rund um Gedankenkontrolle in der Psychiatrie. So steht es etwa im Untersuchungsbericht des Kantons Bern zum Psychiatriezentrum Münsingen. Im vergangenen Herbst wurden durch diesen Bericht zwölf Fälle von Patientinnen bekannt, die in der Klinik wegen angeblicher Gedankenkontrolle therapiert wurden.
Gysi war an der Klinik Supervisor. Und: Der Psychiater war zudem Gründungsmitglied des «Verein für Opfersicherheit», der die Verschwörungserzählung in die Justiz und Polizei tragen wollte.
Elektronische Fussfesseln für angebliche Opfer
Der Verein wollte Opfer angeblicher Gedankenkontrolle etwa mit elektronischen Fussfesseln überwachen lassen, um Täter überführen zu können. Dafür suchte der Verein Kontakt zur Kantonspolizei Bern.
Diese aber lehnte eine Zusammenarbeit ab. Grundsätzlich hält die Kantonspolizei fest, dass man solche Anfragen zur elektronischen Überwachung abschlägig beurteile: «Da wir es als Kantonspolizei als sehr heikel und einschneidend betrachten und es auch rechtlich gesehen problematisch wäre, Opfer in einem solchen Ausmass zu kontrollieren.»
Der «Verein für Opfersicherheit» antwortete nicht auf mehrere Anfragen von SRF Investigativ. Mittlerweile hat sich der Verein offiziell aufgelöst, das Netzwerk dahinter – aus Psychologinnen und Psychiatern – blieb gemäss Recherchen aber bestehen.
Jan Gysi will sich zu den Vorwürfen nicht äussern und teilt schriftlich mit: «Ich verwehre mich gegen die Verschwörungstheorie, Kopf eines Netzwerkes, Vordenker oder Agitator zu sein. Diese faktenwidrigen und persönlichkeitsverletzenden Unterstellungen weise ich mit aller Entschiedenheit zurück.» Und zu der Idee der elektronischen Fussfesseln hält er fest: «Das Projekt wurde 2021 bereits in einer frühen Abklärungsphase sistiert. Es wurde nie auch nur ansatzweise umgesetzt.»
Der Psychiater suchte auch die Zusammenarbeit mit der obersten Polizeibehörde des Bundes, dem Bundesamt für Polizei Fedpol.
Er verfasste einen internationalen Aufruf an Ermittlerinnen und Ermittler. Sie sollten Belege dafür finden, dass tatsächlich Täter mit Spezialwissen zu Gedankenkontrolle existierten. Das Fedpol distanziert sich auf Anfrage, das Dokument habe man nicht verwendet. Man befasse sich nicht mit der Thematik. Für Psychiater Gysi war es laut eigenen Aussagen lediglich eine Projektidee.
Der Psychiater bestätigt, dass aktuell zwei Verfahren gegen ihn laufen: eines im Kanton Bern, das andere bei der Ärztegesellschaft.
Kantone und Verbände leiten Verfahren ein
Die Aktivitäten einzelner Psychologen und Psychiaterinnen, die an die Verschwörungserzählung glauben, können als Einzelfälle angesehen werden. Gemessen an den vielen tausend Menschen, die jedes Jahr wegen eines psychischen Leidens behandelt werden.
Das sind klare Behandlungsfehler und das ist nicht akzeptabel.
Für den Berufsverband der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP ist jedoch klar: Jeder Fall einer Patientin, die wegen der Verschwörungserzählung behandelt wird, ist einer zu viel. Die Verbreitung der Erzählung und die Behandlung von Patienten wegen angeblicher Gedankenkontrolle müsse gestoppt werden. «Das sind klare Behandlungsfehler und das ist nicht akzeptabel», sagt FSP-Sprecherin Cathy Maret.
Aktuell laufe ein Verfahren gegen ein Verbandsmitglied. Um mögliche weitere Fälle aufzudecken und zu untersuchen, sei man auf konkrete Hinweise und Belege von betroffenen Patientinnen oder deren Umfeld angewiesen. Nur dann könne man allfällige weitere Verfahren gegen Psychologinnen und Psychologen einleiten. Als konkrete Massnahme drohe der Ausschluss aus dem Verband.
Deutlich weiter können die Kantone gehen, sie können etwa die Bewilligung zur Berufsausübung entziehen. Der Kanton Bern ist besonders von der Verschwörungserzählung betroffen. Diese hat sich in zwei psychiatrischen Kliniken festgesetzt, 21 Fälle kamen ans Licht. «Aktuell laufen gegen zwei Personen Verfahren», sagt Gundekar Giebel von der bernischen Gesundheitsdirektion. Weitere könnten folgen, wenn genügend konkrete Hinweise eingingen.
Menschliches Leid und hohe Kosten
Die geringe Anzahl an Verfahren weist darauf hin, wie schwierig und hürdenreich es für Behörden und Berufsverbände ist, die Verschwörungserzählung einzudämmen.
Die Schäden durch Behandlungen ziehen Folgekosten nach sich.
Die Patientenorganisation Pro Mente Sana fordert deshalb, dass eine nationale Ombudsstelle eingerichtet wird, damit sich betroffene Patientinnen möglichst einfach melden können. Denn meist seien sie psychisch zu stark belastet, um ein langes und kompliziertes Verfahren anzugehen.
Für den forensischen Psychiater Frank Urbaniok geht es auch noch um einen weiteren Aspekt: die Kosten. «Die Schäden durch Behandlungen ziehen Folgekosten nach sich. Das ist kostenintensiv und hat deshalb einen versorgungspolitischen Aspekt.» Ein Klinikaufenthalt koste mehrere tausend Franken.
Frank Urbaniok sieht die Hauptproblematik der Verschwörungserzählung rund um Gedankenkontrolle darin, dass Therapeuten und Therapeutinnen falsche Erinnerungen mit den Patientinnen erzeugen würden, für die es keine reale Grundlage gebe. Oder dass Erinnerungen von Patientinnen und Patienten ausgebaut und chronifiziert würden: «Beide Interventionen sind klare Behandlungsfehler.»
Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie hält dazu auf der Webseite allgemein fest, dass suggestive, beeinflussende Behandlungsmethoden einen therapeutischen Missbrauch darstellten: «Geführte Imaginationen zu bisher nicht erinnerten möglichen Ereignissen gelten als Kunstfehler.»
Womit sich auch die Frage stellt, ob betroffene Patientinnen nicht Anspruch auf eine Wiedergutmachung hätten.
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