Das Wichtigste in Kürze
- Gerichte müssen künftig bei Depressiven im Einzelfall prüfen, wie sich die Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Erst danach dürfen sie über eine IV-Rente entscheiden.
- Das Bundesgericht hat seine Praxis geändert und macht eine IV-Rente damit künftig nicht mehr schematisch vom Kriterium der «Therapieresistenz» abhängig.
- Auf die IV dürften dadurch höhere Kosten zukommen. Schon heute wird fast die Hälfte der Renten wegen psychischer Erkrankungen bezahlt.
- Sozialversicherungsrechtler Thomas Gächter von der Universität Zürich begrüsste die Praxisänderung. Er hatte die Änderung im Fall von mittelschweren Depressionen angeregt.
Bisher ging das Bundesgericht davon aus, dass Depressive trotz Krankheit arbeiten können, wenn sie sich therapieren lassen. Erst wenn durch ein Gutachten festgestellt wird, dass jemand «therapieresistent» ist, sollte eine IV-Rente zugestanden werden.
Ein untaugliches Vorgehen, kritisierten die Ärzte einhellig. Denn auch nach jahrelanger Behandlung werde ein Arzt seinen Patienten nie aufgeben und als unheilbar bezeichnen. Es seien immer neue Therapien denkbar, die man noch probieren könnte. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts führte deshalb dazu, dass Depressive gar keine Chance auf eine IV-Rente hätten.
Einzelfallprüfung statt «Therapieresistenz»
Wie das Bundesgericht schon im September gegenüber «10vor10» ankündigte, ändert es jetzt seine Praxis. Die Bedeutung der «Therapieresistenz» wird aufgegeben. Die Gerichte müssen künftig bei jedem Einzelfall sorgfältig die Auswirkung der Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit prüfen. Erst danach dürfen sie über die Rente entscheiden.
Die Betroffenen wiederum sind dazu verpflichtet, sich behandeln zu lassen. Auch müssen sie gegenüber IV und Gerichten schlüssig nachweisen, dass sie trotz Therapie nicht in der Lage sind, zu arbeiten.
Michael Liebrenz, Leiter Forensisch-Psychiatrischer Dienst Universität Bern begrüsst den höchstrichterlichen Entscheid aus forensisch-psychiatrischer Sicht sehr. «Insbesondere die zukünftige Gleichbehandlung aller psychischen Störungen stelle einen grossen Fortschritt dar.» Der Entscheid unterstreiche, wie wichtig der offene wissenschaftliche Austausch zwischen Medizin und Recht im Sinne der Betroffenen sei.
Nun wird jeder Einzelfall eingehender und genauer geprüft, ob sich aus einer Depression eine rentenbegründete Einschränkung ergeben kann.
Das Vorgehen der Gerichte bei der Abklärung von depressionsbedingter Arbeitsunfähigkeit aufs Tapet gebracht, hatte Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht der Universität Zürich.
In einer Stellungsnahme zur neuen Praxis begrüsste Gächter die Abkehr von der «Therapieresistenz» bei mittelschweren Depressionen. Denn diese habe schematisch dazu geführt, dass Personen ein allfälliger Anspruch auf eine Rente versagt geblieben sei, obwohl diese in Einzelfällen gerechtfertigt gewesen wäre.
Unklarheit über finanzielle Folgen
Bei der IV müsse sich im Prinzip nichts ändern, heisst es bei der Leitung der Invalidenversicherung. Die kantonalen IV-Stellen seien bereits vor zwei Jahren angewiesen worden, bei Menschen mit Depressionen genauso vorzugehen, wie das oberste Gericht jetzt beschlossen habe.
Ob die kantonalen Stellen dem bereits nachgelebt haben, ist aber fraglich, denn die jetzigen Urteile korrigieren Rentenentscheide aus den letzten zwei Jahren. Es ist somit nicht auszuschliessen, dass es künftig mehr IV-Renten gibt. In der laufenden IV-Revision sind bisher zwar keine Sparmassnahmen geplant. Doch bürgerliche Politiker im Parlament möchten gewisse Entschädigungen kürzen. Das heutige Urteil und die Unklarheit über die Kostenfolgen dürfte ihnen als zusätzliches Druckmittel dienen.