Der Bundesrat will die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) notfalls mit einer einseitigen Schutzklausel ohne die Einwilligung Brüssels umsetzen. Doch was bedeutet dieser Vorschlag für die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU?
Umstrittene Schutzklausel
Der Aargauer SVP-Nationalrat Luzi Stamm sieht in der einseitigen Schutzklausel keine Gefährdung der Bilateralen. Schwierig findet er aber, dass der Bundesrat nach wie vor keine Beschränkung der Zuwanderung beschlossen hat. «Ich höre immer nur den Slogan Schutzklausel, aber wir wissen nicht, was das bedeutet.»
Der Ständerat und noch FDP-Partei-Präsident Philipp Müller vergleicht die Verabschiedung der einseitigen Schutzklausel ins Parlament mit dem Weiterreichen einer «heissen Kartoffel»: «Wir wissen nicht, was nach der Brexit-Abstimmung vom 23. Juni passieren wird. Vor diesem Datum können wir eh nichts im Parlament beschliessen».
Ich höre immer nur den Slogan Schutzklausel, aber wir wissen nicht, was das bedeutet.
Den SP-Nationalrat Eric Nussbaumer ärgert sich vor allem über die in der Verfassung festgelegte Umsetzungsfrist von drei Jahren. Die Schutzklausel ist für ihn Ausdruck der Bemühungen des Bundesrates sowohl der Verfassung als der auch der bilateralen Verträge mit der EU gerecht zu werden.
Die Co-Präsidentin «Operation Libero» Flavia Kleiner möchte den Begriff Schutzklausel jetzt schon als das Unwort des Jahres 2016 küren. Die aktuelle EU-Politik des Bundesrates sei eine Hochrisikopolitik, findet sie. Kontingentieren sei nur ein nettes Wort, um zu sagen, dass man die Verträge mit der EU brechen wolle. «Es ist unsinnig die Mobilität von Arbeitskräften zu kontingentieren. So wenig, wie man den Handel kontingentiert, so wenig sollte man auch Arbeitskräfte kontingentieren.»
Höchstzahlen oder Ausländervorrang?
Der konkrete Vorschlag von Dominik Gysin, Publikumsgast, die Einwanderung auf 40‘000 bis 50‘000 Personen zu beschränken findet bei Nussbaumer wenig Zustimmung. Die Schweiz müsse zwei Probleme gleichzeitig lösen. Zum einen gelte es, die Verfassungsbestimmung innerhalb von drei Jahren zu erfüllen, zum anderen müsste der bilaterale Weg erhalten werden: «Es ist widersinnig über eine so komplexe Frage eine Zahl zu stülpen. Die Zuwanderung ist ein Teil der wirtschaftlichen Prosperität. Sie wird zurückgehen, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert.»
Es ist widersinnig über eine so komplexe Frage eine Zahl zu stülpen.
Für Stamm geht es um die Frage, ob es eine freie Zuwanderung geben soll oder nicht. Kleiner entgegnet ihm, dass die Wirtschaft und nicht der Staat den Bedarf an Arbeitskräften kennen würde. «Wenn der Staat festlegen sollte, wie viel Zuwanderung wir haben sollen, wäre das nichts anderes als Planwirtschaft.»
Auch für Müller ist die Diskussion um die Zahlen der falsche Ansatz. Stattdessen schlägt er einen Inländervorrang vor.
Der Experte für Europa-Recht Dieter Freiburghaus widerspricht ihm: «Der Inländervorrang ist eine Nebelgranate. Das ist doch völlig klar, dass die EU das genauso wenig akzeptiert wie eine quantitative Beschränkung.» Die Nichtdiskriminierung gegenüber anderen EU-Bürgern sei der heilige Gral der EU, so Freiburghaus.
Doch Müller und Freiburghaus werden sich nicht einig. Nach einem kurzen Wortgefecht verlässt der Experte frustriert das Studio. Freiburghaus kehrt nach kurzer Zeit – zur grossen Erleichterung von Moderator Jonas Projer– zurück.
Hintertüre bei schwerwiegenden Problemen
Einen Ausweg aus der Sackgasse könnte eine im aktuellen Abkommen bestehende Bestimmung bieten. Sie besagt: «Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss (…) zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen.» Müller sieht darin eine Grundlage für eine Einigung mit der EU. Nun müsse geprüft werden, ob die Schweiz mehr Chancen mit fixen Zahlen oder mit einem Inländervorrang habe.
Mahr zum Thema
Für Nussbaumer wäre die Anwendung der Bestimmung eine Traumlösung. Allerdings sieht er in der Frist von drei Jahren einen gewichtigen Nachteil: «Die Verhandlungssituation der Schweiz ist ungünstig: Alle wissen, dass wir bis nächstem Jahr etwas haben müssen.»
Der Experte Freiburghaus ist skeptisch, ob die Bestimmung überhaupt zur Anwendung kommen kann: «Wenn die EU nicht einmal einem Mitgliedstaat wie England eine Verletzung eines der wichtigsten Prinzipen zugesteht, wie soll das dann einem Drittstaat gelingen?»
Gefährdete Bilateralen
Schuld an der schwierigen Umsetzung der MEI trägt für Kleiner die SVP. Diese solle nun endlich aufhören mit Initiativen Schindluderei zu betreiben. Zu Stamm sagt Kleiner: «Sie haben immer behauptet, die Bilateralen würden nicht betroffen sein. Doch das Gegenteil ist jetzt der Fall. Was Sie fordern ist schon fast die Kündigung der Bilateralen Abkommen.» Stamm entgegnet ihr: «Es geht nicht um die Bilateralen Verträge. Wir reden über die Einwanderung. Die Bilateralen sind völlig unbestritten.»
Kleiner erhält Unterstützung vom Experte Freiburghaus: «Wenn ein gestandener Politiker wie der Herr Stamm behauptet, dass die Bilateralen Verträge mit der Umsetzung der MEI nicht gefährdet sind, dann falle ich fast vom Stuhl. Das ist so blöd.»
Natürlich sind die Bilateralen gefährdet.
Müller pflichtet Nussbaumer bei: «Natürlich sind die Bilateralen gefährdet.» Ein Artikel des Vertrages besage, dass sämtliche Dossiers der Bilateralen I miteinander verknüpft seien. «Wenn wir das Freizügigkeitsabkommen verletzten, dann fallen auch die anderen Dossiers.»