Der Startschuss für die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ist gefallen. Beide Parteien haben ihre offiziellen Verhandlungsmandate veröffentlicht und bereits nächsten Montag reist Bundespräsidentin Viola Amherd nach Brüssel.
Die Schweiz schaut gespannt auf die kommenden Verhandlungen, die bereits im Herbst 2024 abgeschlossen werden sollen. Der EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis, ist optimistisch, dass es diesmal gelingt. Gegenüber der «Arena» sagt er: «Ich bin zuversichtlich, dass es diesmal zur Unterzeichnung eines Abkommens kommt. Denn beide Seiten wollen dieses Vertragspaket.»
Wenn man den «Arena»-Gästen am Freitagabend zuhört, wird deutlich: Es steht viel auf dem Spiel. Die Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter sieht den Wohlstand der Schweiz in Gefahr, sollte kein Abkommen zustande kommen. FDP-Ständerat Matthias Michel pflichtet bei und betont, dass geregelte Beziehungen zur EU vor allem für die Wirtschaft zentral seien.
Für die SVP-Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher steht nichts weniger als die Schweizer Demokratie auf dem Spiel. Vom Verhandlungsmandat des Bundesrats hält sie wenig. Dieses würde ihrer Meinung nach bedeuten, dass sich die Schweiz der EU komplett unterwerfe. Positiv gestimmt gibt sich SP-Nationalrat Fabian Molina. «Aber es gibt Fragen, die noch innenpolitisch geklärt werden müssen.»
«So in die Verhandlungen zu starten, ist verantwortungslos»
Spürbar viel Klärungsbedarf gibt es beim Thema Lohnschutz. Konkret geht es um Instrumente, welche die Schweiz anwendet, um Lohndumping zu verhindern. «Der Lohnschutz ist in hohem Masse gefährdet. So in die Verhandlungen mit der EU zu starten, ist verantwortungslos», sagt die Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva. Vom Bundesrat erwartet sie, dass er beim Lohnschutz «klare Kante» zeigt, und sie kritisiert die Arbeitgeberverbände, die in den zahlreichen Gesprächen keine verbindlichen Zugeständnisse gemacht hätten.
Der Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, Roland A. Müller, kontert: «Auch wir wollen den Lohnschutz wahren, aber wir wollen ihn nicht ausbauen, so wie das die Gewerkschaften möchten.» Ausserdem habe es «massive Fortschritte» gegeben und es gehe aktuell nur noch um Details.
Eines dieser Details ist beispielsweise die Spesenregelung. Die EU möchte, dass die Spesen eines Arbeitnehmers aus der EU, der in der Schweiz arbeitet, nach den Regeln seines Herkunftslands vergütet werden. Die Gewerkschaften befürchten, dass es so zu Lohndumping kommt. Der Arbeitgeberverband teilt diese Meinung: «Da haben wir einen gemeinsamen Nenner», so Müller.
Stromabkommen: Bundesrat möchte ein Wahlmodell
Im neuen Verhandlungspaket möchte die Schweiz unter anderem ein neues Stromabkommen mit der EU aushandeln, um den Zugang zum europäischen Strommarkt sicherzustellen. Für Schneider-Schneiter von der Mitte ist das besonders zentral, denn «ohne dieses Abkommen haben wir ein Problem bei der Versorgungssicherheit», sagt sie.
Der Bundesrat strebt eine Art Teilliberalisierung an. Das würde heissen, dass Konsumentinnen und Konsumenten entscheiden könnten, ob sie in der regulierten Grundversorgung oder am freien Markt Strom kaufen möchten.
Ohne ein Stromabkommen mit der EU haben wir ein Problem mit der Versorgungssicherheit.
Eine «Win-win-Situation», findet FDP-Ständerat Michel. «Es ist zentral, dass die regulierte Grundversorgung gewährleistet bleibt», betont hingegen Molina. Er schlägt sogar vor, dass die Schweiz das Stromabkommen zu einem späteren Zeitpunkt verhandeln soll, wenn die EU diese Forderung nicht akzeptieren sollte.
Dass die Schweiz überhaupt ein Stromabkommen mit der EU abschliessen möchte, sieht SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher kritisch. Der Strom könnte teurer und instabiler werden, befürchtet sie. «Und ausserdem würde die EU uns diktieren, wann und wie wir unsere Wasserkraftwerke für die Stromproduktion anstellen dürften.»
Laut Martullo-Blocher besteht beim vorliegenden Verhandlungspaket generell die Gefahr, dass die EU der Schweiz ihr Recht überstülpen könnte. Besonders kritisch sieht sie das Schiedsgericht, das gemäss Mandat künftig entscheiden soll, wenn es einen Rechtsstreit zwischen der Schweiz und der EU gibt. Umstritten ist vor allem die Rolle, die der Europäische Gerichtshof bei der Streitbeilegung spielen könnte.
Die «Arena»-Gäste der anderen Parteien sehen im Schiedsgericht allerdings mehr Vor- als Nachteile, da es die Schweiz vor willkürlichen Strafmassnahmen der EU schützen würde. Bereits im Herbst 2024 wollen der Bundesrat und die EU-Kommission das Abkommen unterzeichnen. In der Schweiz wird dann allerdings das Stimmvolk das letzte Wort haben.