Die junge Frau – nennen wir sie Manuela K. – wohnt im Kanton Aargau. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder im Vor- und Primarschulalter. Schon vor der Pandemie habe sie genau rechnen müssen, und ihren Kindern nicht dasselbe bieten können wie andere Eltern:
Rauf in die Berge, mit den Kindern in den Schnee, all diese Dinge. Wir waren seit drei Jahren nicht mehr in den Ferien. Wenn man dann sieht, wie andere Fotos von ihren Ferienwohnungen zeigen, bin ich nicht neidisch, sondern einfach ein bisschen traurig. Man gibt ja den ganzen Tag sein Bestes, und am Schluss heisst es dann fast, man sei ein ‹Jammeri›.
Als der Ehemann von Manuela K. an seinem Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb auf Kurzarbeit gesetzt wurde, fehlten plötzlich nochmals 20 Prozent des Einkommens: «Es war erst einmal ein grosser Schock.» Die finanziellen Auswirkungen seien aber noch nicht absehbar gewesen. «Erst mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es einfach nicht mehr reicht, nicht einmal mehr für die wichtigen Sachen. Miete, Krankenkasse, Grundbedarf – wir mussten überall abspecken.»
In der Not habe sie sich an eine Beraterin der Caritas gewandt, erzählt Manuela K. «Sie hörte mir von ganzem Herzen zu, ich fühlte mich sehr aufgehoben.»
Die Angst vor der nächsten Welle
Neben der mentalen Unterstützung hat das Hilfswerk der Familie auch finanziell unter die Arme gegriffen – einmalig. Insgesamt zehn Millionen Franken hat die Caritas laut eigenen Angaben aus einer Sammlung der Glückskette seit Beginn der Pandemie an rund 22'000 Menschen verteilt. Auf den Gang zur Sozialhilfe hat Manuela K. verzichtet. Sie und auch ihre Beraterin sind davon ausgegangen, dass Kurzarbeit und die damit verbundenen Einschränkungen wegen der Pandemie einmalig seien.
Als ihr Mann nach ein paar Monaten wieder voll habe arbeiten können, sei es ihnen auch wieder besser gegangen, erzählt Manuela K. «Wir konnten etwas regenerieren und die Rechnungen allmählich abzahlen.» Die Angst blieb aber. Denn um Reserven anzuhäufen, habe es in der Zwischenzeit nicht gereicht. «Jetzt besteht die Unsicherheit erneut, dass es im Januar/Februar wieder Kurzarbeit geben könnte.»
Kaum Nischen für wenig Qualifizierte
So geht es in der Schweiz vielen. Die Caritas schätzt die Zahl der von Armut betroffenen oder bedrohten Menschen auf rund 1.3 Millionen. Viele hangeln sich quasi von Krise zu Krise. Sie litten denn auch verstärkt unter der Pandemie, wie Emanuela Chiapparini, Armutsforscherin an der Berner Fachhochschule, sagt: «Armutsbetroffene Personen, die eine weniger gute Ausbildung haben oder in unsicheren Arbeitsverhältnissen stehen, sind die grössere Risikogruppe. Manchmal sind auch ihre sozialen Kontakte eingegrenzt und sie ereilt die Krise stärker: Sie können nicht einfach mit dem Auto in die Natur rausfahren.»
Mit der Digitalisierung und Automatisierung verändere sich auch die Arbeitswelt stark, erklärt Armutsforscherin Chiapparini: «Es werden mehr Fachkräfte benötigt, repetitive Arbeiten werden automatisiert. Es gibt immer weniger Nischen, in denen sich nicht so hoch qualifizierte Personen mit ihren Talenten einbringen können.» Da seien die Unternehmen gefordert, meint die Armutsforscherin, dass sie Stellen für schlecht Qualifizierte nicht einfach streichen, sondern wo möglich erhalten.
Neben der Arbeit bräuchten die Armutsbetroffenen vor allem niederschwellige Unterstützung, sagt Chiapparini, wo sie angehört werden und Angebote mitgestalten können, um nach Wegen wieder heraus aus der Armut zu suchen. Das fehle zum Teil im sonst gut ausgebauten sozialen Netz der Schweiz: «Es gibt viele Bemühungen, etwa in Sozialdiensten und den politischen Gemeinden. Man versucht Gremien zu schaffen, in denen sich Armutsbetroffene einbringen können. Aber es gibt einfach Luft nach oben.»