Ein Paradox: In der Waadt wächst die Wirtschaft überdurchschnittlich, die Löhne steigen. Gleichzeitig wächst die Armut. Fünf Prozent der Bevölkerung im Kanton Waadt leben laut des dortigen Sozialberichts in Armut. Dazu gehören auch rund 40'000 Personen im arbeitsfähigen Alter, die mit weniger als 2500 Franken im Monat auskommen müssen. Die Arbeitslosigkeit ist mit 4,3 Prozent ebenfalls verhältnismässig hoch. In der Schweiz sind es im Schnitt 3 Prozent. Und mit der Armut steigen die Sozialausgaben.
Der Kanton Waadt versucht mit verschiedenen Massnahmen diese Dynamik zu durchbrechen: Zum Beispiel mit einem Hort in Lausanne, der Plätze für Kinder von Sozialhilfeempfängern reserviert. Oder mit einem Ausbildungsprogramm speziell für junge Erwachsene, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. SRF-Korrespondent Sascha Buchbinder hat die spezielle Kindertagesstätte besucht und SRF-Korrespondentin Barbara Colpi hat einen jungen Arbeitslosen begleitet.
Ein Krippenplatz, damit sich die Armut nicht vererbt
Lausanne, Rue du Valentin, Haus Nummer 12. Die Strasse geht steil bergauf – mit der Folge, dass man hochgreifen muss, um an die Türklinke zu gelangen. Wer in dieses Haus will, fühlt sich klein. Wobei: Kinder sind hier tatsächlich an der richtigen Adresse.
Die Erzieherin und Direktorin Claire-Lise Paccaud begrüsst Eltern und Kinder. Auf den ersten Blick ist das hier ein normaler Hort. Zeichnungen an den Wänden, ein paar Spielsachen auf dem Fussboden, dazwischen wuseln Kinder im Alter bis 4 Jahre. Speziell ist aber, dass 12 von 22 Plätzen für Kinder reserviert sind, deren Eltern in einer beruflichen Eingliederungsmassnahme für Sozialhilfebezüger sind.
Wirksamer als vermutet
Arbeitslose Eltern stecken oft in einem Teufelskreis: «Die Hortplätze sind in erster Linie Eltern vorbehalten, die arbeiten», sagt Paccaud. Ohne Kinderbetreuung aber können arbeitslose Eltern keine Stelle antreten. In Lausanne versuchen Stadt und Kanton mit einem Pilotprojekt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Das klingt banal – ist aber neu und vor allem: wirksamer als vermutet.
Wir hatten schon ein Kind, das im Alter von fast vier Jahren noch gestillt wurde.
Langzeitarbeitslose und ihre Kinder lebten oft abgeschottet. «Wir hatten schon ein Kind, das im Alter von fast vier Jahren noch gestillt wurde.» Der Hort bringe die überfällige Loslösung von den Eltern in Gang, erzählt Paccaud. Manchmal sei das schmerzhaft, mit vielen Tränen verbunden. Aber letztlich wollten alle Kinder nur eines: die Welt entdecken. Und diese Dynamik übertrage sich auf die Eltern. «Wir haben Kinder, Mütter oder Familien gesehen, die richtig aufblühten», erzählt die Hortleiterin.
Hort wichtig für soziale Kontakte
Der Pilotversuch läuft seit einem Jahr – die Chefin des Amts für Sozialhilfe, Françoise Jaques, meint, für eine eigentliche Bilanz sei es noch zu früh. Aber:
«Von den zehn ersten Teilnehmern haben sechs Sozialhilfebezügerinnen Arbeit oder einen Ausbildungsplatz gefunden.»
Langfristig ebenso wichtig sei aber noch ein anderer Effekt. Im Hort hätten Kinder soziale Kontakte, sie würden gefördert. Und das sei wichtig: dass die Kinder aus benachteiligten Familien beim Schulstart vergleichbare Chancen wie die Kinder anderer Familien hätten, sagt Françoise Jaques.
Massnahmen, damit auch noch 29-Jährige ihren Lehrabschluss machen
Amine erscheint zu früh zum Interviewtermin. Vor sechs Jahren kam der Afghane als Kriegsflüchtling in die Schweiz. Er habe hier gelernt, pünktlich zu sein: «Wenn man ohne Grund zu spät kommt, dann wird das in der Schweiz als mangelnder Respekt empfunden. Das hat man mir so beigebracht», sagt der junge Mann.
Amine weiss, was er will. Er hat dafür gekämpft, eine begleitete Lehre machen zu können – denn diese Möglichkeit haben derzeit nur 300 junge Erwachsene im Kanton. Obwohl er in seiner Heimat schon Maler war und hier bereits mehrere Praktika absolviert hat, hatte er Mühe, eine Lehrstelle als Maler zu finden.
«Zuerst musste ich genug gut Französisch lernen, nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich. Das macht mir noch immer Mühe, doch ich gebe nicht auf und beisse mich durch.» Er sei dankbar in Lausanne so gut unterstützt zu werden, sagt Amine in bestem Französisch.
Es ist in der Schweiz sehr wichtig, einen Lehrabschluss zu haben. Um später arbeiten zu können. Um überhaupt leben zu können.
Weil er erlebt hat, wie es ist, ohne einen Berufsabschluss eine Stelle zu finden, will der 29-Jàhrige alles dafür tun, die Berufslehre erfolgreich abzuschliessen und dann nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
«Es ist in der Schweiz sehr wichtig, einen Lehrabschluss zu haben. Um später arbeiten zu können. Um überhaupt leben zu können», ist der Afghane überzeugt.
Psychische Probleme, Suchtverhalten und schwierige Familiensituation
So hartnäckig und motiviert wie Amine sind nicht alle Jugendlichen im sozialen Ausbildungsprogramm. Rund ein Drittel gibt im ersten Jahr auf. Die Gründe dafür seien vielfältig, sagt Laurence Cuany, Co-Leiterin des regionalen Koordinationszentrums in Lausanne.
Oft sind es gesundheitliche, psychische Probleme: Traumata, Suchtverhalten. Dazu komme eine ungünstige Wohnsituation, die zu einer generellen Instabilität führe. «Besonders Personen, die aus einem Alleinerzieher-Haushalt kommen, sind besonders fragil.» Es sei es schwierig, Ausbildung und Familie unter einen Hut zu bringen.
Die Stärke des Projekts sieht Laurence Cuany vor allem darin, die jungen Erwachsenen über einen längeren Zeitraum begleiten und unterstützen zu können. Dadurch könnten echte Vertrauensverhältnisse aufgebaut und Probleme angepackt werden.
Bildungs- oder Sozialhilfepolitik?
Rund 3000 junge Erwachsene haben in den letzten zehn Jahren von einem Ausbildungsprogramm profitiert. Diese Projekte liegen Sozialminister Pierre-Yves Maillard besonders am Herzen. Immer wieder muss er sich rechtfertigen, wieso die Sozialausgaben in der Waadt kontinuierlich steigen und mittlerweile fast 30 Prozent des Kantonsbudgets ausmachen. Und weshalb diese Kosten dieses Jahr erstmals höher sind als die Bildungsausgaben.
Diese Gegenüberstellung zwischen Bildung und Sozialhilfepolitik ist absurd.
«Das ist eine ganz dumme Polemik», sagt Pierre-Yves Maillard. «Ist es nicht gut für die Integration und für die langfristige Dynamik der Wirtschaft?» stellt er die rhetorische Frage, auf die er gleich selbst antwortet: «Ich denke, diese Gegenüberstellung zwischen Bildung und Sozialhilfepolitik ist absurd.» Die rund 20 Millionen Franken pro Jahr investiere man in Bildungsmassnahmen für junge Sozialhilfebezüger. «Ist es also Bildungs- oder Sozialpolitik?»
Für eine Ausbildung ist es nie zu spät
Die Jugendlichen, die von dieser Haltung profitieren sind im Schnitt 22 Jahre alt. Amine ist mit 29 Jahren einer der ältesten. Ihn störe das nicht, denn er ist überzeugt: «Es ist nie zu spät im Leben, eine Ausbildung zu beginnen».
Wenn alles gut geht, dann wird der junge Afghane seine Malerlehre im nächsten Jahr abschliessen.