Zum Inhalt springen
Video
Prozess gegen islamistischen Attentäter von Morges beginnt
Aus Tagesschau vom 11.12.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 10 Sekunden.

Attentat von Morges Zwei Monate nach der Haftentlassung schlug er zu

Der mutmassliche dschihadistische Attentäter von Morges (VD) kommt heute vor Gericht. Er soll einen 29-Jährigen getötet haben.

Für Jairo* und seine Freunde gehört das einfach zu einem gelungenen Samstagabend dazu: ein Imbiss in der Kebab-Bude nahe dem Bahnhof von Morges (VD). Jairo bestellt einen Taco mit Poulet. Die Temperaturen sind mild, damals Mitte September 2020, Corona scheint überstanden, die Nacht ist noch jung – endlich wieder ausgehen wie früher.

Doch der 29-jährige Jairo überlebt den Abend nicht. Er sitzt an einem Tisch im Imbiss und wartet auf seinen Taco, als sich ihm nach 21 Uhr ein Mann von hinten nähert und ihm ein 20 Zentimeter langes Messer in die Seite rammt. Jairo bricht zusammen, fällt vom Stuhl auf die Steinplatten. Seine Freunde versuchen, die Blutung zu stoppen. Sie haben keine Chance.

Nach der Tat schrie er «Allahu Akbar!»

Jairo war ein Zufallsopfer. Elfmal war der mutmassliche Täter in den Stunden zuvor am Imbiss vorübergegangen, bevor er zuschlug und «Allahu Akbar!» schrie, «Allah ist der Grösste!». Das geht aus der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft (BA) hervor. Die BA wirft dem Beschuldigten vor, die Tat in der Absicht begangen zu haben, damit die Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) zu unterstützen. Der Vorwurf lautet unter anderem auf Mord und Verletzung des IS-Verbots.

Was dem Beschuldigten vorgeworfen wird

Box aufklappen Box zuklappen

Insgesamt sind in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft elf Tatbestände aufgelistet, die dem Beschuldigten vorgeworfen werden: Für den tödlichen Angriff auf Jairo sind es vorsätzliche Tötung und Mord, wobei für eine Verurteilung wegen Mordes nach Gesetz eine besondere Skrupellosigkeit gegeben sein muss. Bei Mord beträgt die Mindeststrafe zehn Jahre Freiheitsentzug bis lebenslänglich. Welches Strafmass die Anklage fordert, wird sie vor Gericht bekannt geben.

Weiter wirft die BA dem Beschuldigten versuchte vorsätzliche Tötung sowie einfache Körperverletzung vor. Dies, weil der bei der Tat anwesende Freund am gleichen Tisch einen schweren Schock erlitten habe. Zudem habe der Beschuldigte später in Haft einen Gefängnisaufseher angegriffen und mit einem Kugelschreiber zu töten versucht, sowie auch einen Mitarbeiter des Bundesamts für Polizei angegriffen.

Auch für den versuchten Brandanschlag auf eine Tankstelle wird er nun angeklagt, sowie wegen Gewaltdarstellungen, die er auf seinem Mobiltelefon besass und anderen gezeigt haben soll. Zudem werden Vorwürfe wegen Verletzung des IS-Verbots, wegen Verbreitung von Propaganda und wegen seines Reiseversuchs zur Terrororganisation erhoben. Hinzu kommt der Vorwurf der Verletzung des Betäubungsmittelgesetzes wegen Cannabis-Konsums.

Wie sich der türkisch-schweizerische Doppelbürger zu den Vorwürfen stellt, ist nicht bekannt, seine Anwältin beantwortet vor dem Prozess keine Fragen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Bestätigt sich die ideologische Motivation der Tat, so zählt der Messerangriff von Morges vom 12. September 2020 als erster dschihadistischer Terroranschlag auf Schweizer Boden. Der Mann war am Tag darauf festgenommen worden – und war kein Unbekannter. Seit mindestens drei Jahren, ab 2017, war er den Sicherheitsbehörden als radikaler Islamist bekannt.

Video
Archiv: Schweizer Terrorverdächtige kannten sich schon länger
Aus News-Clip vom 29.01.2021.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 10 Sekunden.

Aufgewachsen in der Lausanner Vorortsgemeinde Prilly stand er in Kontakt mit zwei Männern aus der Region, die später zu den berüchtigtsten Dschihadisten der Schweiz gehören würden.

Versuchter Brandanschlag auf Tankstelle

Auch der spätere Tatverdächtige von Morges versuchte nach Syrien zu gelangen, drehte aber in Norditalien wieder um. Kurz darauf fasste er gemäss Anklage der BA den Entschluss, in der Schweiz einen Anschlag im Sinne des IS zu verüben. Als Ziel suchte er eine Tankstelle aus. Im April 2019 versuchte er diese in Brand zu setzen – scheiterte aber, da er sich eher stümperhaft anstellte.

Darauf wurde er festgenommen – und blieb 15 Monate in Untersuchungshaft. Während der Ermittlung wurde seine Radikalisierung festgestellt. Trotzdem wurde er im Juli 2020 aus der Untersuchungshaft entlassen. Zwei Monate später schritt er zur Tat.

* Name der Redaktion bekannt.

Haben die Behörden versagt?

Box aufklappen Box zuklappen

Im Juli 2020 kam der nun Beschuldigte aus der Untersuchungshaft frei, dies per Beschluss des Zwangsmassnahmengerichts und unter strengen Auflagen – zumindest auf dem Papier. Die Liste der sogenannten Ersatzmassnahmen füllt beinahe eine ganze Seite in der Anklageschrift. Sie reichen vom Entzug seiner Reisepapiere über eine Meldepflicht bei der Polizei bis zum Verbot, sich mit Personen abzugeben, die in das Strafverfahren gegen ihn involviert sind, also mögliche andere Islamisten.

Nach der Tat wurde besonders die Frage der Unterbringung zum Streitpunkt. Hier zeigt die Liste, dass der Angeklagte den kantonalen Sozialbehörden zugewiesen wurde, die ein Hotelzimmer bereitstellen sollten, was sie auch taten. Vorgesehen war zudem die Beschäftigung in einer sozialen Stiftung und eine therapeutische Begleitung.

Gemäss Recherchen von SRF hat der Mann aber mehrfach gegen Auflagen verstossen. Trotzdem blieb er in Freiheit. Nach der Tat haben sich der Kanton Waadt und die BA gegenseitig verantwortlich gemacht. Waadt sagte, man habe die Verstösse nach Bern gemeldet – dort hiess es, es habe juristisch keine ausreichende Grundlage für eine Wieder-Inhaftierung bestanden.

Bis heute ist Frage der Verantwortlichkeit nicht lückenlos geklärt. Eine Inspektion der Aufsichtsbehörde über die BA (AB-BA) ist noch hängig.

Tagesschau, 11.12.2022, 19:30 Uhr

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel