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Bergdörfer in der Gefahrenzone «Nein, im Griff hat man diesen Berg nicht»

Kommt der Berg oder kommt er nicht? Andreas Huwiler erforscht für den Kanton Graubünden gleich zwei der spannendsten Bergsturz-Hotspots der Alpen: Den Piz Cengalo, der vor drei Jahren das Dorf Bondo mit einer Schuttlawine überschwemmt hat, und das Dorf Brienz GR, das selbst abrutscht.

Im Interview erklärt er, warum er zwar nach Bondo, aber eher nicht nach Brienz GR ziehen würde und wie er damit umgeht, dass seine Prognosen im Extremfall über Leben und Tod entscheiden können.

Andreas Huwiler

Geologe

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Andreas Huwiler ist Geologe und diplomierter Bergführer und arbeitet seit 2009 für das Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden. Er ist sowohl an der Überwachung des Piz Cengalo oberhalb von Bondo beteiligt als auch am Rettungsversuch von Brienz/Brinzauls.

SRF: Am 23. August 2017 stürzten am Piz Cengalo im Bergell 3 Millionen Kubikmeter Fels ins Tal, lösten einen Schuttstrom aus, der 8 Menschen verschüttete und im Dorf Bondo gravierende Schäden anrichtete. Seither beobachten Sie den Piz Cengalo permanent – was tut sich aktuell?

Andreas Huwiler: In den letzten Wochen war er ruhig. Allerdings haben wir Anfang Juni während zwei, drei Tagen wieder Bewegungen registriert, die für einen Berg von dieser Grösse bedeutend sind.

Besorgniserregend?

Das nicht. Wir haben das schon häufiger beobachtet. Aber natürlich: Wenn sich so eine grosse Masse bewegt, ist das im Grundsatz immer ein Stück weit beängstigend.

Video
Aus dem Archiv: Das Bündner Bergdorf Brienz rutscht und rutscht
Aus 10 vor 10 vom 13.07.2020.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 38 Sekunden.

Noch immer weiss man nicht genau, was den grossen Bergsturz von 2017 ausgelöst hat, und vor allem, warum der Schuttstrom so zerstörerisch wurde. Warum ist man noch nicht weiter?

So grosse Bergstürze sind weltweit sehr selten, darum hat man wenig Erfahrung damit. Noch immer forschen Hochschulen weltweit daran, welches der entscheidende Faktor war, der den Schuttstrom in Bondo so gross und schnell gemacht hat. Er hatte Ausmasse, wie man sie noch nie gesehen hat.

Der Piz Cengalo war schon vorher überwacht, trotzdem kamen die Ereignisse von 2017 überraschend. Kann man so etwas gar nicht zuverlässig vorhersehen?

Doch, das kann man – aber nur mit einer sehr engen Überwachung. Am Cengalo hat man damals einmal pro Jahr eine Messung gemacht. Zudem hat uns der Berg überrascht.

Die weltweite Erfahrung ist, dass sich grosse Bergstürze mit kleineren Vor-Stürzen ankündigen. Im August 2017 war alles anders. Die Felsmasse hat sich fast explosionsartig gelöst.
Autor: Andreas Huwiler Geologe

Für uns heisst das, dass wir unsere Messungen sehr kritisch hinterfragen müssen und dass wir parallel verschiedene Messsysteme brauchen. Es zeigt sich aber auch, dass die Natur halt trotz allem ein Stück weit unberechenbar bleibt.

Acht Wanderer waren trotz Warnung im Gebiet unterwegs. Sie kamen beim Bergsturz ums Leben. Das zeigt: Fehlende oder ungenaue Prognosen können gravierende Folgen haben. Was macht das mit Ihnen als Geologe?

Das ist ein Stück weit sehr belastend. Das Problem ist: Wir können meist keine genaue Prognose abgeben, wann was passiert. Wir können nur eine Wahrscheinlichkeit nennen, in welchem Zeitraum möglicherweise ein Bergsturz kommt.

Auch beim Cengalo haben wir gesagt: In den nächsten Wochen oder Monaten ist mit einem Ereignis zu rechnen, wir wissen aber nicht, wann und ob es wirklich dazu kommt.

Wenn Menschen zu Schaden kommen, beschäftigt das einen schon sehr stark.
Autor: Andreas Huwiler Geologe

Es ist vielleicht ähnlich wie im Winter, wenn Menschen trotz hoher Lawinengefahr in ungesichertes Gelände gehen. Man fragt sich dann schon, ob sie sich des Risikos eigentlich bewusst sind.

Sie haben die Überwachung am Cengalo aufgerüstet – haben Sie den Berg jetzt im Griff?

Nein, im Griff hat man diesen Berg nicht. Wir haben ja gesehen, dass sich der Bergsturz nicht wie gewohnt angekündigt hat. Und wir haben auch festgestellt, dass der Cengalo manchmal wider Erwarten sehr plötzliche, ruckartige Bewegungen macht. Wir wissen im Moment noch nicht abschliessend, warum das so ist.

Und Bondo – wie sicher ist das Dorf heute?

Bondo ist nicht direkt bedroht von einem Bergsturz, sondern von einem Schuttstrom. Davor ist das Dorf geschützt durch ein Auffangbecken, was sich 2017 auch bewährt hat. Nur ist das Becken irgendwann übergelaufen.

Nun ist es wieder intakt, zudem haben wir Überwachungsanlagen, die einen Schuttstrom anzeigen würden, und wir überwachen ja auch den Berg selbst. So können wir ein gravierendes Ereignis hoffentlich Tage oder sogar Wochen im Voraus erkennen.

Würden Sie jemandem empfehlen, nach Bondo zu ziehen?

Auf jeden Fall. In Bondo gibt es viele sichere Gebiete, wo man problemlos wohnen kann.

Gilt das gleiche auch für Brienz GR, das Dorf, das jedes Jahr über einen Meter abrutscht?

Eher nicht – man weiss zu wenig, wie es dort weitergeht. Hätte ich ein Haus in Brienz, würde ich aber auch nicht wegziehen. Im Moment sind die Leute im Dorf sicher.

In Brienz drohen gleich zwei Gefahren: Einerseits die «Rutschung Dorf» – der Boden unter dem Dorf rutscht und mit ihm rutscht das ganze Dorf Richtung Tal; andererseits die «Rutschung Berg» – über dem Dorf droht ein grosser Bergsturz. Was ist schlimmer?

Das ist eine schwierige Frage. Die «Rutschung Dorf» kann die Häuser so stark beschädigen, dass die Menschen wegziehen müssen.

Beide Rutschungen können katastrophale Auswirkungen haben.
Autor: Andreas Huwiler Geologe

Und die «Rutschung Berg» kann einen verheerenden Bergsturz auslösen. Was vielleicht den Unterschied macht: Sollten wir den Bergsturz nicht rechtzeitig kommen sehen – und dafür besteht ein sehr kleines Risiko –, dann könnte es Tote geben. Darum ist das vielleicht die schlimmere Gefahr.

Berge in Bewegung

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Unsere Alpen sind in Bewegung. An diversen Orten in der Schweiz bröckeln die Berge und drohen Bergdörfer zu zerstören. Wie lebt es sich mit diesem Risiko? Dieser Frage ist Radio SRF 1 nachgegangen. Im Zentrum stehen drei unterschiedliche Bergdörfer mit ihrer je einzigartigen Geschichte.

Bondo GR: Ein Dorf ist zurück - drei Jahre nach der Katastrophe («Treffpunkt» am Montag, 3.8.2020 um 10 Uhr, Radio SRF 1)

Brienz GR: Ein Dorf am Abgrund – warum auch die Jungen trotzdem bleiben («Treffpunkt» am Mittwoch, 5.8.2020 um 10 Uhr, Radio SRF 1)

Goldau SZ: Ein Dorf, das nicht vergisst – wie der Jahrtausend-Bergsturz von 1806 das Dorf bis heute prägt («Treffpunkt» am Freitag, 7.8.2020 um 10 Uhr, Radio SRF 1)

Wie gross ist denn das Risiko für einen solchen Bergsturz?

Wir können das nicht in Zahlen sagen. Es ist so gross, dass es wichtig ist, dass wir dieses Gebiet intensiv überwachen. Es ist aber auch so klein, dass die Leute im Moment hierbleiben können. Ob es überhaupt jemals zu einem grossen Bergsturz kommt – das wissen wir nicht.

Es gibt verschiedene Szenarien – von kleineren Abbrüchen bis hin zu einem Jahrhundertbergsturz mit siebenmal mehr Felsmasse als in Bondo. Was ist wahrscheinlicher?

Schon jetzt brechen regelmässig einzelne Brocken ab. Wir haben aber tatsächlich Angst davor, dass sich auf einen Schlag sehr viel Material löst und es zu einem Bergsturz kommt, der das ganze Gebiet bis ins Tal verschüttet und auch die Linie der Rhätischen Bahn und die Autostrasse im Albulatal zerstört.

Sie wollen das Dorf retten mit einem Drainage-Stollen: Er soll Wasser aus dem Boden ableiten, um die «Rutschung Dorf» zu verlangsamen. Wird das klappen?

Ich habe sehr grosse Hoffnungen, dass wir die Rutschung stark verlangsamen können. Sie ganz zu stoppen, wird wohl nicht gelingen.

Aber wir können die Rutschung hoffentlich so sehr bremsen, dass die Menschen in Brienz wieder ein normales Leben führen können
Autor: Andreas Huwiler Geologe

Aktuell liegt Brienz in der roten Gefahrenzone, das bedeutet: absoluter Baustopp. Die Bewohner hoffen, dass sich das bald wieder ändert – ein realistischer Wunsch?

Brienz rutscht im Moment rund einen Meter pro Jahr Richtung Tal. Der Grenzwert für die Gefahrenzone liegt bei zehn Zentimetern pro Jahr. Wenn die Sanierung die Rutschung auf unter zehn Zentimeter zu verlangsamen vermag, dann kann man die Gefahrenzone aufheben. Vorher nicht.

Von welchem Zeithorizont reden Sie da?

Das wird sicher noch mehrere Jahre dauern.

Das Gespräch führte Anna Wepfer.

Radio SRF 1, Samstag 1. August 11:30 Uhr

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