«Der Bundesrat bleibt seiner Politik in der Coronakrise treu.» Dies war einer der ersten Sätze, den Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga vor den Medien sagte. Als gehe es darum, den Eindruck zu entkräften, der Bundesrat habe heute überraschend grosse Öffnungsschritte in die Wege geleitet. Tatsache ist aber: Er ging heute deutlich weiter, als er vor knapp zwei Wochen in Aussicht gestellt hatte. Der Bundesrat scheint auf der klaren Linie, die er seit Ende Februar durchzieht, etwas ins Schlingern geraten zu sein.
Wirksames Lobbying der Beizer
Besonders auffällig vom früher skizzierten Kurs kommt die Landesregierung im Gastgewerbe ab. Mit klaren Abstandsregeln zwar, aber schon in eineinhalb Wochen wird man sich zu viert wieder zum Mittagessen im Restaurant treffen können. Sogar das Feierabendbier in der Bar ist nicht länger nur ein Wunschtraum. Die betroffenen Branchenverbände haben in den letzten Tagen bis übers Wochenende ein lautstarkes Lobbying aufgezogen. Das ist offensichtlich nicht wirkungslos geblieben.
Das half jenen im Bundesrat, deren Liebäugeln mit grösseren Öffnungsschritten schon vor der heutigen Sitzung öffentlich wurde. Wirtschaftsminister Guy Parmelin zum Beispiel. Aber auch Finanzminister Ueli Maurer. In bemerkenswerter Offenheit sagte Maurer heute in einem Interview in der NZZ, er wäre froh, wenn man bei Bars und Restaurants «vorwärtsmachen würde». Er liess sogar eine gewisse Bewunderung für Schweden durchblicken, wo man «mehr oder weniger normal» mit Corona lebe und der wirtschaftliche Schaden viel kleiner sei als in der Schweiz.
Im Bundesrat hat heute die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Coronamassnahmen auf jeden Fall eine grosse Rolle gespielt. Zu einem Zeitpunkt, da man die Folgen der ersten Lockerungen noch nicht kennt. Baumärkte, Coiffeursalons oder Gartencenter gingen bekanntlich erst vor zwei Tagen auf. Ob das Risiko, das der Bundesrat damit eingeht, zu hoch ist und ob eine befürchtete zweite Welle damit wahrscheinlicher wird – das werden erst die nächsten Wochen zeigen.
Klare Linie bei Schulen
Das Gleiche gilt für die Öffnung der Schulen, auch sie birgt Risiken. Hier kann man dem Bundesrat allerdings keinen Schlingerkurs vorwerfen. Die Linie bleibt klar. Früher und dezidierter als die meisten anderen Staaten hat er die Öffnung angekündigt. Trotz kritischer Stimmen und Einschätzungen – vor allem aus dem Ausland – hält er weiter daran fest. Mit durchaus glaubwürdigen Argumenten. Hier muss der Bundesrat dafür sorgen, dass die Kantone einigermassen einheitlich vorgehen.
«Wir müssen lernen mit der Ungewissheit zu leben», sagte Gesundheitsminister Alain Berset letzte Woche. Wie sich die heute beschlossenen Lockerungen auswirken, lässt sich nicht genau abschätzen. Weil immer noch vieles im Zusammenhang mit diesem Virus ungewiss ist. Dass aber die scheinbar banalsten Massnahmen, Händewaschen und Distanzhalten, zu den wirksamsten gehören – das ist unbestritten. Das bedeutet, dass es die Bevölkerung auch selber in Hand hat, ob der Bundesrat Ende Mai weiter lockern kann. Oder zurückkrebsen muss.