«Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.» So steht es in der Schweizerischen Bundesverfassung. Das heisst unter anderem: Der Staat muss die Schuld der Beschuldigten beweisen und nicht umgekehrt. Bis dieser Beweis gelingt, gilt eine Person als unschuldig.
Später fand die Unschuldsvermutung auch Eingang ins Zivilrecht. Dieses nimmt auch die Medien in die Verantwortung. Ihre Berichterstattung zu Strafprozessen muss mit der Unschuldsvermutung konform sein. Hier spielt es auch keine Rolle, ob die Person unbekannt oder bekannt ist.
Das Bundesgericht verlangt bei der Gerichtsberichterstattung insbesondere:
- eine zurückhaltende Ausdrucksweise
- Beschuldigte müssen grundsätzlich anonymisiert werden
- Vermutungen und Anschuldigungen müssen als solche gekennzeichnet werden
- eine Vorverurteilung – bspw. eine Darstellung der Beschuldigten als Täterinnen – gilt es absolut zu verhindern
Wie setzen die Medien die Unschuldsvermutung um?
Alain Joset ist seit 20 Jahren Strafverteidiger. Seiner Meinung nach sei die Unschuldsvermutung in den Medien zu etwas Floskelhaftem verkommen: «Im Strafverfahren ist sie für meine Mandanten meist ohne konkreten positiven Effekt.»
Er wünscht sich grundsätzlich eine bessere Gerichtsberichterstattung in der Schweiz. Viele Medien konzentrierten sich lediglich auf den Anklagevorwurf und die ausgesprochene Strafe. «Wie ein Gericht zu einem Urteil kommt, das kommt in meinen Augen viel zu kurz vor in der Berichterstattung.» Dies sei eigentlich das Spannende.
«‹Es gilt die Unschuldsvermutung› ist kein Persilschein». Dieser Meinung ist Gunhild Godenzi, sie unterrichtet an der Universität Zürich Straf- und Strafprozessrecht. Ein blosser Hinweis auf die Unschuldsvermutung sei sicherlich nicht ausreichend, vielmehr müsse der gesamte Bericht mit ihr konform sein.
Das Gegenteil davon beobachtet sie im Fall um den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz: «Die beschuldigte Person darf nicht als schuldig oder als Täter hingestellt werden, solange wir noch im Strafverfahren sind. Zu solchen Vorverurteilungen ist es hier wohl gekommen.»
Die Folgen für die Beschuldigten sind oft gravierend
Ein medienwirksames Gerichtsverfahren sei für die Beschuldigten schon bei konformer Berichterstattung sehr belastend, sagt Strafverteidiger Alain Joset. Die unkontrollierbare Dynamik, die das medienwirksame Verfahren mit sich ziehe, sei eine ungeheuerliche Belastung für die Beschuldigten: «So ein Medienpranger ist in der Regel die Hauptsanktion für die Beschuldigten und oft schlimmer als die Strafe, die sie am Schluss bekommen.»
Noch belastender muss eine Berichterstattung sein, welche die Unschuldsvermutung verletzt.
Der unnötige Zusatz, der absichern soll
Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung wird in Medienberichten als Absicherung angehängt. Bei sachlicher Berichterstattung bräuchte es ihn aber gar nicht.