In uns allen schlummert ein wahrer Datenschatz: unsere DNA. Sie gibt nicht nur Auskunft über unsere Herkunft oder Augenfarbe, sondern auch über die Wahrscheinlichkeit, mit der wir an Krebs, Parkinson oder Diabetes erkranken.
Solche Daten sind der Treibstoff der personalisierten Medizin. Sie verspricht: Je mehr Daten über einen Patienten vorhanden sind, desto besser die Diagnosen und desto zielgerichteter die Therapien. Vor allem aber können viele Krankheiten schon im Vorhinein entdeckt und so verhindert werden.
So viele Daten wie nie zuvor
«Nie zuvor standen so viele Daten von uns zur Verfügung», sagt Effy Vayena, Professorin für Bioethik an der ETH Zürich. «Die Philosophie des Moments lautet: Je mehr Daten wir in der medizinischen Forschung haben, desto besser sind die Antworten, die wir wahrscheinlich bekommen werden.»
Bei diesen Daten handelt es sich nicht nur um unsere DNA oder Krankenakte. Mit jedem Blutbild generieren wir neue Informationen. Wir können heute unser ganz individuelles Mikrobiom bestimmen. Biobanken speichern Blut- und Gewebeproben von uns.
Und immer mehr Menschen – in der Schweiz sind es derzeit rund 33 Prozent – benutzen Gesundheits- und Fitness-Apps, die alles genau dokumentieren: Sportgewohnheiten, Herzfrequenz, Schlafrhythmus, Bluthochdruck.
Für die Wissenschaft ist diese Masse an Gesundheitsdaten paradiesisch: Werden sie alle analysiert und miteinander verbunden – und zwar nicht nur von Einzelnen, sondern von Millionen Menschen –, kann die medizinische Forschung ungeahnte Fortschritte machen.
Im Idealfall wird es nicht mehr darum gehen, Kranke zu heilen, sondern die Gesunden gesund zu behalten.
Die Schweiz steht ganz am Anfang
Soweit die Hoffnung. Doch die personalisierte Medizin steckt noch in den Kinderschuhen. Zumindest in der Schweiz.
Hier wird mit dem elektronischen Patientendossier gerade erst begonnen, die Krankenakten der Patienten von verschiedenen Ärzten zusammenzuführen. Bisher kann es passieren, dass ein Patient ins Krankenhaus kommt und nicht alle nötigen Daten zur Verfügung stehen, weil sie an so vielen verschiedenen Orten liegen.
Andere Länder sind weiter, zum Beispiel Finnland. In dem 5,5-Millionen-Einwohner-Staat werden alle Patientendaten seit Jahren zentral verwaltet und nun in wegweisenden Projekten genutzt.
Das Erbgut von 500’000 Finnen
Eines dieser Forschungsprojekte heisst «FinnGen». Es soll das Erbgut – das Genom – von 500'000 Finninnen und Finnen analysieren, rund 10 Prozent der Bevölkerung. Forschungsleiter Aarno Palotie setzt grosse Hoffnungen in das Projekt: «Die genomische Medizin zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Krankheitsmechanismen besser kennenlernen. So dient sie als Sprungbrett für bessere Diagnostik und neue Therapien.»
Unser Erbgut ist wie ein Buch, das erzählt, wer wir sind. Es besteht aus 6 Milliarden Buchstaben, den Basen. Die allermeisten Seiten sind bei uns allen genau gleich. Nur in einigen tausend Buchstaben unterscheiden wir uns. Doch genau diese Abweichungen lösen bei der einen Brustkrebs aus und beim anderen Parkinson – und lassen Dritte quietschfidel 100 Jahre alt werden.
Keinen Durchschnitt mehr behandeln
Ausserdem führen diese genetischen Unterschiede zu ganz unterschiedlichen Reaktionen auf Medikamente. Derzeit gibt es häufig standardisierte Einheitstherapien. Sie wirken, aber nicht bei allen gleich gut. Und bei einigen wenigen Patienten sogar gar nicht.
«Personalisierte Medizin heisst, keinen Durchschnitt mehr zu behandeln», sagt Aarno Palotie. Doch um die Unterschiede zwischen den Patienten erforschen zu können, braucht es erst einmal die Erbgut-Daten von so vielen Menschen wie möglich.
95 Prozent der Patienten machen mit
Im Spital Helsinki spricht deshalb eine spezialisierte Krankenpflegerin mit allen Patienten persönlich, um sie zu einer Genspende zu bewegen. Viele sind misstrauisch. Die Pflegerin informiert, wofür diese Daten benutzt werden und wer Zugriff hat. Am Ende sagen rund 95 Prozent der Patienten ja.
So auch Massi Tammela. In der Familie seines Vaters häufen sich die Herzerkrankungen. «Wenn ich weiss, dass auch mein Risiko erhöht ist, mache ich vielleicht mehr Sport oder achte besser auf meine Ernährung».
Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund, warum er sein Genom analysieren lässt und der Forschung zur Verfügung stellt: Die Hoffnung, dass seine Daten auch anderen nützen könnten. In Zukunft vielleicht seinen Kindern.
70 Millionen für die personalisierte Medizin
«Es ist sehr beeindruckend, was die Finnen machen», sagt Mark Rubin, Professor für biomedizinische Forschung an der Universität Bern und Leiter des neuen Bern Center for Precision Medicine, das 2019 eröffnet wird.
Der grosse Vorteil in Finnland: Dort sind seit Jahren alle Gesundheitsdaten in einer Datenbank vereint. Für Mark Rubin ist das der Schlüssel zum Erfolg, auch in der Schweiz.
Hierzulande hat der Bund gerade erst 70 Millionen Franken investiert, um die personalisierte Medizin voranzutreiben. Eines der zentralen Anliegen des Swiss Personalized Health Networks ist der Aufbau einer Infrastruktur, die alle Daten zusammen führt, damit sie sinnvoll genutzt werden können. Von der Wissenschaft und von den Ärzten.
«Stellen Sie sich vor, wir hätten alle Patienteninfos zentral versammelt», sagt Mark Rubin. «Wenn neue Erkenntnisse zu einer Krankheit entstehen, wüssten wir ganz genau, welche Patienten diese Behandlung brauchen könnten.»
Knacknuss Datenschutz
Ohne die Patientendaten funktioniert das natürlich nicht. Und da sind wir bei der Knacknuss der personalisierten Medizin: dem Datenschutz.
Schon jetzt wären laut der SRG-Umfrage zu «Dataland» drei Viertel der Schweizer bereit, ihre Erbgut-Informationen preiszugeben, wenn dies helfen würde, erbliche Krankheiten wie Krebs oder Diabetes vorzubeugen.
Bioethikerin Vayena wundert das nicht. «Für diese Menschen ist ein gesundes und längeres Leben wichtiger als das Risiko eines möglichen Datenschutzverstosses.»
Was aber, wenn die Versicherung meine Diabetes-Anlage nutzt, um meine Police hoch zu stufen? Oder ich nur schon als «krank» gelte, weil ich die Veranlagung zu Parkinson habe – obwohl die Krankheit vielleicht nie ausbricht?
Die Schweiz ist bereit
Für wirkliche Antworten ist es zu früh. Das seien Dinge, die die Gesellschaft in Zukunft aushandeln müsse, sagt die Ethikerin Vayena. Wichtig ist, dass die Bürger informiert sind, wer ihre Daten nutzt und wofür.
Der grosse Vorteil der Schweiz: Hier vertraue man den Forschungsinstitutionen und Spitälern. Die Herausforderung sei, das Vertrauen zu behalten. «Gleichzeitig muss jeder von uns sich viel aktiver dafür interessieren, was mit seinen Daten geschieht.»
Die Datenrevolution in der Medizin verspricht den Patienten vieles. Aber sie fordert ihnen auch alles ab. Wie bereitwillig wir unsere Daten preisgeben, entscheidet schlussendlich wohl etwas ganz Banales: Ob wir mit unseren Daten wirklich die beste Behandlung bekommen.