SRF News: Die Zahl der Asylsuchenden geht zurück. Experten gehen aber davon aus, dass sie 2018 wieder ansteigen können. Sind Sie in einer Verschnaufpause oder haben Sie das Asylproblem tatsächlich im Griff haben?
Simonetta Sommaruga: ‹Im Griff haben› ist ein Ausdruck, der bei der Asylpolitik nicht passt. Warum gibt es Flüchtlinge? Viele kommen aktuell beispielsweise aus Syrien, weil es dort einen Konflikt gibt. Den kann man nicht in den Griff bekommen. Man kann daran arbeiten, dass es in Syrien bald wieder Frieden gibt. Das ist mein Grundanliegen. Es ist aber so, dass wir einen massiven Rückgang der Anträge haben. Gleichzeitig haben wir weniger Anträge von Arbeitsmigranten. Man stellt keinen Antrag, wenn man weiss, dass man keine Chance hat. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.
Sie haben letztes Jahr das neue Asylgesetz durchgebracht mit schnelleren Verfahren und Bundesasylzentren. Trotzdem gibt es in der Bevölkerung Widerstand zum Beispiel in Schwyz. Wollen Sie das Bundesasylzentrum da jetzt einfach so durchdrücken?
Unsere Asylpolitik wird von der Bevölkerung mitgetragen. Zum Asylgesetz haben zwei Drittel der Bevölkerung ja gesagt.
Es ist bei den Bundesasylzentren wie bei den Atomendlagern. Man sieht ein, dass man sie braucht, aber niemand will sie bei sich haben. Nervt Sie das?
Wir erstellen diese Zentren im Auftrag der Bevölkerung. In kurzer Zeit haben wir dreizehn gefunden. Mit der Region Innerschweiz werden wir noch einmal zusammensitzen, das ist in der Schweiz so und nicht aussergewöhnlich. Ich habe immer wieder erlebt, dass sich die Bevölkerung am Anfang gewehrt hat. Wenn wir die Zentren nach einiger Zeit wieder geschlossen haben, sagten die gleichen Leute ‹es war eigentlich schön›.
Sie sagen, dass Sie in der Asylpolitik auf Kurs sind, aber der eigentliche Stresstest kommt erst noch. Die Gemeinden und Kantone haben Angst vor gigantischen Sozialkosten, die sie für die vielen Flüchtlinge, die in den letzten Jahren in die Schweiz gekommen sind, zahlen müssen. Da hilft dann auch keine Beruhigungspille mehr.
Wir haben keine Beruhigungspillen, sondern eine Aufgabenteilung in dem Land. Der Bund ist für die Verfahren zuständig. In dieser Zeit zahlt er den Kantonen etwas für die Unterbringung. Danach sind die Kantone zuständig. Ich kenne Kantone, die sehr erfolgreich sind in der Arbeitsintegration der Flüchtlinge. Es gibt Kantone, die mehr Mühe haben. Wir sind in einem engen Austausch. Je länger man wartet, desto höher sind die Sozialkosten, das ist richtig. Aber jeder der im Arbeitsmarkt ist, bezieht keine Sozialhilfe. Im Föderalismus ist es wichtig, dass die Aufgabeneinteilung immer wieder angeschaut wird, dann klappt das.
Je länger man wartet, desto höher sind die Sozialkosten, das ist richtig.
Haben Sie keine Angst vor einer Kostenexplosion?
Eine Kostenexplosion entsteht dann, wann man es nicht schafft, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Aber statt zu jammern, heisst es anzupacken.
Die grösste Flüchtlingsgruppe in der Schweiz stammt aus Eritrea. Herr Cassis will dahin reisen. Sie waren noch nie da. Warum nicht?
Man trifft den Präsidentenberater von Eritrea zum Beispiel an der UNO in New York an. Wir haben mit ihm Gespräche geführt. Unsere Leute gehen auch nach Eritrea. Herr Cassis hat richtig gesagt, dass es zuerst diplomatische Beziehungen braucht. Man kann nicht einfach eine Botschaft eröffnen und alle Probleme sind gelöst. Aber um etwas klarzustellen, wenn man immer von grossen Zahlen aus Eritrea spricht: Dieses Jahr waren es noch 2500 Menschen. Wichtig ist die diplomatische Beziehung, aber dazu braucht es zwei.
Ich glaube auch eine Bundesrätin darf zeigen, wenn es genug ist.
Ein grosser Gegner Ihrer Asylpolitik ist Roger Köppel. Bei einer Rede von ihm im Parlament haben Sie den Ratssaal verlassen. Mit Ihnen die SP-Fraktion. Die damalige Nationalratspräsidentin Christa Markwalder hat gesagt, dass es ein Missverständnis war und Sie auf die Toilette gegangen sind. Warum haben Sie den Saal damals tatsächlich verlassen?
Es gibt natürlich viel Kritik in diesem Amt. An 364 Tage im Jahr kann ich damit umgehen.
Also geben Sie zu, dass es Ihnen an diesem Tag zu viel war. Auch wenn Sie sonst immer sagen, dass Sie unter Druck aufgehen?
Noch einmal. Das Jahr hat 365 Tage. Ich glaube auch eine Bundesrätin darf zeigen, wenn es genug ist. Und reagieren. Am Schluss ist es mir lieber, wenn die Kritik auf mich fällt, als auf die Flüchtlinge. Ich kann damit umgehen.
Zu einem anderen Thema: Sie setzten sich für mehr Frauen auf der Führungsebene ein. Das Ziel sind 30 Prozent in den Verwaltungsräten und 20 Prozent in den Geschäftsleitungen. In Ihrem Departement gibt es 45,4 Prozent Frauen. Im Vergleich mit den anderen Departementen sind Sie im Mittelfeld. Das sieht ein bisschen nach Handlungsbedarf bei Ihnen aus. Was wollen Sie im neuen Jahr besser machen?
Ich stehe gerade für die Stellen, welche ich in meiner Amtszeit besetzen konnte. Für die können Sie mich zur Rechenschaft ziehen. Im obersten Kadern habe ich 50 Prozent Frauen. In grossen Firmen sind neun von zehn Personen Männer. Wir wissen, dass Männer häufig Männer wählen. Der Bundesrat will mit seinem sehr pragmatisch und zurückhaltenden Vorschlag etwas anstossen. 20 Prozent der Geschäftsleitungsmitglieder sollen in zehn Jahren Frauen sein. Wenn man das nicht schafft, weiss ich auch nicht.
Als Sie in den Bundesrat gewählt wurden, waren zum ersten Mal mehr Frauen in der Landesregierung. Nun sind es nur noch zwei. Wenn Doris Leuthard zurücktritt könnten Sie die einzige Frau sein. Sie haben gesagt, das betrübe Sie. Was wäre denn so schlimm daran?
Ich bin der Meinung, dass der Bundesrat das Land abbilden soll. Mit der Zauberformel haben wir klare Partei-Quoten. Wir haben weiche Vorgaben, dass die Regionen und Sprachen vertreten sein sollen. Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Die sind dann gar nicht mehr gespiegelt im Bundesrat. Für den Zusammenhalt des Landes und die Lebendigkeit ist das eine schlechte Voraussetzung. Aber Sie müssen nicht am Bundesrat die Schuld dafür geben, sondern anderen.
Warum soll man nicht auch dafür sorgen, dass die Frauen richtig vertreten sind?
Brauchen wir eine Frauenquote im Bundesrat?
Das Jahr, in dem wir eine Frauenmehrheit hatten, war sehr gut.
Besser als jetzt?
Es war anders.
Besser?
Es war ein sehr gutes Jahr. Der Bundesrat hat sich zu dieser Frage noch nicht geäussert. Aber ich habe es deutlich gesagt. Das Parlament will, dass die verschiedenen Sprachen und Regionen richtig vertreten sind. Warum soll man nicht auch dafür sorgen, dass die Frauen richtig vertreten sind?
Sie sind für eine Quote?
Ich lade das Parlament ein, alles dafür zu tun, dass sich die Bevölkerung – Männer und Frauen – auch im Bundesrat wiederfinden.
Das Gespräch führten Sandro Brotz und Susanne Wille.